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SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)

SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)

Titel: SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Mascolo
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gefunden, mich für die Söhne und Töchter der Täter zu interessieren. Aber sie waren Kinder. Mitten im Krieg.
    "Es fehlt uns eine vorbehaltlose vertraute Nähe zueinander", sagt Hartmut Radebold, der 75 Jahre alt ist und selbst ein Kriegskind. Seit Jahren forscht er über die späten Folgen des Zweiten Weltkriegs. Der Professor für Klinische Psychologie kennt das feinnervige Verhältnis zwischen beiden Generationen auch aus der eigenen Familie. "Wir Kriegskinder haben unseren Töchtern und Söhnen eine äußerlich sichere Kindheit zur Verfügung gestellt", sagt er. "Taschengeld, Spielzeug, Reisen – all das, was wir nicht hatten. Aber wir haben sie nach Normen erzogen, die ihnen unzugänglich waren und die sie nicht verstehen konnten, weil wir uns nie geöffnet haben."
    Iss den Teller leer. Geh sorgsam mit den Sachen um. Sei sparsam. Hüte dich vor Fremden.
    "Viele dieser nun erwachsenen Kinder haben uns Eltern früher so erlebt, als hätten wir ihre alltäglichen Sorgen nicht ernst genommen", sagt Hartmut Radebold. "Den Ärger in der Schule, den Streit mit den Freunden. Und wahrscheinlich haben wir ihnen auch unbewusst zu verstehen gegeben, dass sie mit solchen Kleinigkeiten allein klarkommen müssen. Wir hatten schließlich einen Krieg überlebt. Aber irgendwann erzählten auch die Kinder nichts mehr von ihrem Kummer. So wussten beide Seiten oft nicht voneinander, was sie wirklich beschäftigt."
    Als sich abzeichnete, dass die Zeit für eine letzte große Reise gekommen war, besuchten mein Vater und ich Masuren. Umgeben von den Seen seiner Kindheit, hörte ich schließlich zu. Und er erzählte. Von dem Försterjungen, der er einmal war, der mit der kleinen Schwester auf einen Schlitten stieg, in Kulk am Lenksee, und sich in einen Treck einreihte, im Januar 1945. Dreizehn Jahre alt und ohne die Eltern, der Vater war Soldat, die Mutter bei der sterbenden Großmutter im brandenburgischen Eberswalde. Spiegelglatte Landstraßen, Hunderttausende Flüchtlinge. Verendende Pferde, verendende Menschen.
    "Und auf der Nehrung, da entluden sie alle ihre Wagen, um auf dem sandigen Untergrund leichter voranzukommen. Überall standen Körbe mit Kochtöpfen und Wäsche, und dazwischen Großmütter, tot, mit dem Rücken hingesetzt an einen Kiefernbaum. Und die Kinder, Ersttagskinder, geboren auf der Flucht. Lebend ließ man sie hinunterfallen, weil die Mütter keine Kraft zum Stillen hatten, und der nächste fuhr darüber hinweg. Manchmal legte sich ein Pferd zum Sterben lang, die Fußgänger schnitten das Fleisch aus dem noch lebenden Tier. Und die Pferde, die hatten so einen Gesichtsausdruck, als wollten sie es nicht glauben."
    "Was hast du damals gedacht?"
    "Ich habe nicht viel gedacht. Man muss hier durch, irgendwie. Es war ja auch nicht möglich, mal eben zu wenden und zurückzufahren. Der Treck hatte eine Eigendynamik, er sah aus wie eine Ziehharmonika, kilometerlang, die irgendwo in der Ungewissheit enden würde. Immerhin, unsere Sehnsucht, das alles zu meistern, hatte ein Ziel: Treffpunkt Eberswalde! Da wartet die Mutter, und wenn er den Rückzug schafft, auch der Vater. Die Brüder. Und die ältere Schwester. Tatsächlich war sie zu dem Zeitpunkt bereits tot."
    "Wie lange warst du unterwegs?"
    "Am 21. Januar, am späten Nachmittag, sind wir losgezogen. Mitte März kamen wir in Eberswalde an."
    "Und dann?"
    "Dann habe ich erst einmal gebadet. Allen Dreck wollte ich loswerden. So ein Bad ist ja doch ein kleines Therapeutikum."
    Eine Wanne wäre schön", sagt mein Vater, wenige Wochen vor dem Umzug in das Altersheim. Er liegt in einem Krankenhaus, und ich sitze neben seinem Bett, zornig, traurig über seine Badefreuden. Am Abend zuvor hat er es nicht mehr herausgeschafft, aus der Badewanne in seiner Wohnung, immer wieder sank sein schwerer Körper zurück. Das Wasser wurde lau, er gab warmes hinzu, doch das Becken war bald randvoll und der Abflusspfropfen unerreichbar. So fand ihn am Morgen die Zugehfrau.
    Ein Zimmer mit zwei Betten, ein Holzkreuz mit dem geschundenen Leib Christi, das Haus steht in katholischer Tradition. Auf dem Nachttisch eine Karte, die Klinikverwaltung wünscht einen guten Aufenthalt. Aus einem Schlauch tröpfelt Flüssigkeit in seinen Arm. "Eine Wanne", verlangt mein Vater. "Eine Wanne haben wir nicht", erwidert die Krankenschwester, und er sinkt zurück in die Unruhe seiner Träume, fuchtelt in dem Luftraum über seinem Gesicht, ruft, er wolle fort, endlich entkommen!
    "Papa", sage ich, und die

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