SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)
der Professor für Klinische Psychologie. "Sie verwahren, was sich noch einmal verwenden lassen könnte, alte Fäden, gebrauchtes Geschenkpapier; sie essen alles auf, sie suchen in fremden Umgebungen den Notausgang." Äußerlich freundlich, bleiben sie lebenslang misstrauisch. Der Argwohn, der nächste Augenblick könne schlimmes Unheil bereithalten, verlässt sie nie.
Dreißig Prozent dieser Generation gelten als traumatisiert. "Diese Männer und Frauen tragen eine Decke aus Beton in sich", sagt Hartmut Radebold. "Sobald sie sich bedroht oder abhängig fühlen, bröckelt der Beton. Oft überfluten sie dann Angst und Panik."
Ein schwerer Unfall kann der Auslöser sein, der Verlust eines Verwandten, ein Krankenhausaufenthalt. Auch Demenz bereitet dem Schrecken Einlass; das kranke Gehirn verliert zunehmend die Fähigkeit, die verdrängten Erinnerungen zu zähmen. Dann genügen manchmal schon ein Geräusch oder ein Fernsehbild der zerstörten Dresdner Frauenkirche, um Angst und Panik zu entfachen. Und es kann bereits einen Schutz bedeuten, wenn die Menschen drum herum weiche Schuhsohlen tragen statt harter Absätze, deren Klang an Stechschritte erinnern.
"Ihr Vater ist früh dran", sagt Hartmut Radebold. "Den meisten Kriegskindern steht die Hilfsbedürftigkeit noch bevor. Sie sind jetzt zwischen 66 und 81 Jahre alt, und Hinfälligkeit beginnt überwiegend erst nach dem achtzigsten Geburtstag."
Viele wird die Gebrechlichkeit mit einer Wucht treffen, die sie nie für möglich gehalten haben. Ihr Körper hat immer funktioniert, bei bitterem Mangel, unter größten Strapazen, sie kennen ihn als eine funktionierende Maschine, die sich mit Medikamenten ölen lässt. Nun, mitten in Frieden und Wohlstand, verlieren sie ihn als Verbündeten. Sie werden abhängig, sie wehren sich. Die Hilflosigkeit früherer Zeit soll sie nie mehr einholen.
An einem Morgen im Frühling 2008 klingelt in meinen Schlaf das Telefon. Ein Angestellter des Altersheims teilt mir mit, dass ein Notarzt Horst Thimm in ein Krankenhaus eingeliefert habe. "Nichts Schlimmes", sagt er. "Aber der Mann braucht mehr Betreuung."
Mein Vater wird entlassen, bevor ich ihn besuchen kann. "Ich bin weiterhin gegen eine Pflegestufe", erklärt er, als wir telefonieren. "Je mehr Hilfe man bekommt, desto mehr Hilfe braucht man."
Ich muss arbeiten, mein Bruder lebt in der Schweiz, meine Mutter kann meinen Vater nicht betreuen – aber so geht es nicht weiter. Am Wochenende, da können wir uns treffen, beratschlagen, wenigstens ein Anfang. Er kommt uns zuvor. Wieder leuchtet die Bonner Vorwahl auf dem Display, diesmal ist es eine der Schwestern des ambulanten Pflegedienstes, die ihn morgens, mittags und abends mit Medikamenten versorgen. Sie hat ihn bäuchlings auf dem Teppichboden vorgefunden und am Vortag nass und ausgekühlt im Duschraum. Die Schwester klagt mich an. "Ihr Vater war sehr traurig. Er hat gefroren, er hat nicht getrunken. Er hat sich nicht angezogen, er hat nicht gefrühstückt. Station 2", sagt die Schwester, "er muss endlich auf Station 2."
Station 2 ist der Pflegebereich im zweiten Stock des Heims, da wachen Schwestern und Pfleger Tag und Nacht über die Bewohner. Mein Vater hat einmal den Aufzug genommen und Station 2 besichtigt. Eine Frau lebt dort, die dauernd auf einen Tisch klopft. Eine andere stöhnt pausenlos, eine dritte webt immerzu mit dem Kopf. "Holen Sie mich weg!", ruft diese Frau, sobald sie einen Menschen erblickt. Es gibt auch einen Mann auf Station 2. Er scheint niemanden wahrzunehmen.
Mein Vater wehrt sich. Er bittet um Aufschub. Er spricht von Würde. Wir argumentieren stundenlang.
Ich erinnere mich an seine Erleichterung, als er die Hürde in das Altersheim genommen hatte, an die Entschlossenheit, diese Bleibe aber wirklich erst wieder zu verlassen, wenn man ihn mit den Füßen zuerst hinaustrage. Er glaubte damals, nie mehr aus seinen beiden Zimmern ausziehen zu müssen. Zweimal noch fahren ihn Sanitäter in ein Krankenhaus, bevor Blaulicht und Notaufnahmen seinen Widerstand ermatten. "Antrag auf Feststellung einer Pflegestufe", heißt das Formular, das wir dann ausfüllen. Doch das Versprechen, die vertrauten Zimmer weiterhin bewohnen zu können, nimmt mir mein Vater ab.
Als der Tag gekommen ist, den er so lange abgewehrt hat, wirkt er vergnügt. Trotz des warmen Sommers hat er ein Jackett in gedecktem Grau gewählt und eine Krawatte umgebunden. Aufrecht wartet er im Sessel auf die Ärztin vom Medizinischen Dienst der
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