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Krankenversicherung. Das Signal, das er so darbietet, ist unübersehbar: Herr Horst Thimm ist ohne Zweifel in der Lage, mit vollem Einsatz um die nächste Partie seines Lebens zu spielen.
Ob die Ärztin es wohl als Bestechung auffassen könne, wenn er ihr einen Kaffee anbiete, fragt er mich. Oder einen doppelten Espresso. Wie die meisten Bewohner hat er die Formeln modernen Kaffeetrinkens erst in der Caféteria des Altersheims kennengelernt. "Oder dieses Milchkaffeegesöff? Wie heißt das gleich?"
"Cappuccino."
"Nee, das andere."
"Latte macchiato?"
"Genau. Russisch Kakao gibt es ja leider nicht."
"Der wird ja auch mit Alkohol zubereitet."
"Und Alkohol ist nichts für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung. Aber wenn das Hauptgeschäft hier erledigt ist, können wir zwei in der Rheinaue Russisch Kakao trinken." Er überlegt, dies gleich anfangs kundzutun, um den Termin zu beschränken.
"Ich möchte dich nicht desillusionieren", sage ich. "Aber wenn die Ärztin da war, kommt die Schwester mit der Insulinspritze, und dann ist Abendbrotzeit."
Unverständnis zieht über sein Gesicht. Solch kleinkarierte Einwände an solch einem Tag. "Du bist doch sonst nicht so unflexibel", antwortet er mir.
Die Ärztin möchte keinen Kaffee. Keinen Cappuccino, keinen Latte macchiato. Nicht einmal Wasser mag sie trinken, dabei ist die Temperatur draußen auf über dreißig Grad gestiegen.
"Herr Thimm, wie lange wohnen Sie schon hier?"
Als wolle er sie unterhalten wie ein Conférencier, holt mein Vater aus. Wie er bei sibirischen Minusgraden nachts in den Rabatten vor seiner alten Wohnung gelegen habe, ausgerutscht. Wie es dort, nach einigen Stunden, doch sehr kalt wurde. Wie ein Arzt ihn im Krankenhaus entgegen aller Erwartungen wieder hinbekommen habe, zum zweiten Mal. "Und seither wohne ich hier", schließt er und lächelt sie an. "Und genieße den Blick auf den Baum vor dem Fenster."
"Brauchen Sie, neben dem Spritzen des Insulins, noch andere Hilfe?"
"Die Schwestern haben es übernommen, die Gummistrümpfe anzuziehen und auszuziehen."
"Können Sie stehen?"
"Ich kann stehen. Es kommt allerdings schnell der Moment, in dem ich wieder sitze."
"Klingeln Sie um Hilfe?"
"Nein. Wenn ich falle, hangele ich mich an einem Band am Bettpfosten hoch. Ich habe da ein eigenes System entwickelt."
Die Ärztin erkundigt sich nach den Medikamenten. Er hat die Frage erwartet und zieht ein Blatt Papier aus der Brusttasche. "Meine Güte", sagt sie, als sie die Liste überflogen hat. "Man wird ein Medikamentenlagerhaus", erwidert mein Vater. "Das ist der Schatz des alten Mitmenschen." Dann erhebt er sich, mühsam, aber ohne innezuhalten, nickt ihr zu und kramt in einem der Kartons im Regal.
"Wäre für Sie denn wohl ein weißer Burgunder gut?", fragt er schließlich.
"Ja, der wäre gut", entgegnet die Ärztin. "Aber ich nehme ihn nicht. Ein Gutachter, der eine Flasche Wein mit nach Hause nimmt, der wäre das Letzte."
Bevor sie sich verabschiedet, teilt sie ihm das Ergebnis mit. "Pflegestufe 1. Der Bedarf ist gegeben, dass jemand für Sie da ist, wenn Sie ihn brauchen, und Ihnen außerdem morgens und abends beim Waschen und Ankleiden hilft. Wie lange sich das in diesen Räumen realisieren lässt, ist eine andere Geschichte. Das müssen Sie leider selbst organisieren."
"Keine unangenehme Person", sagt mein Vater, als sie gegangen ist. "Und mit dem Wein, da wollte ich sie ein bisschen testen."
Mein Vater schläft an diesem Abend mit dem Gefühl ein, das Spiel des Lebens doch noch irgendwie zu meistern. Schließlich hat die Ärztin nicht von Station 2 gesprochen. Ratlos betrachte ich, wie er die ersten Vorbereitungen für die Nachtruhe trifft, wie er mit dem rechten großen Zeh die Socke vom linken Fuß schiebt, so hat er es sich angewöhnt, seit ihm das Bücken schwerfällt. Ich weiß nicht, wer dieser jemand sein soll, morgens und abends und allzeit abrufbereit. Die Schwestern vom ambulanten Pflegedienst jedenfalls können es nicht leisten. Wir werden suchen müssen.
Als ich ihm eine gute Nacht wünsche, bedankt er sich für alle Unterstützung. "Nur eines noch", sagt er dann. "Die tägliche Körperpflege, die würde ich schon gern weiterhin allein regeln."
Wie machen es nur die anderen? Henning Scherf, der frühere Bremer Bürgermeister, und seine Frau haben sich in einer Wohngemeinschaft mit Freunden zusammengeschlossen. Er ist 72. Seine Kinder sollen ihm den Vogel gezeigt haben, aber die Freunde wollen sich, so lange es
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