SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)
Aufgabe unserer Gesellschaft! Er ist ein Gradmesser für ihre Menschlichkeit! Mit einem Mal redet man genauso.
Und blickt um sich und sucht Unterstützung.
Da ist Kristina Schröder; die Familienministerin will eine "Familienpflegezeit" einführen, jeder soll zwei Jahre lang die Arbeit auf fünfzehn Stunden in der Woche reduzieren können, um sich den alten Eltern zu widmen. Da ist Philipp Rösler, der Gesundheitsminister, er hat 2011 zum "Jahr der Pflege" erklärt und will reformieren.
Ginge es nach ihm, sollte jeder in einer Art Lebensversicherung zusätzliche Rücklagen für die drohende Gebrechlichkeit bilden. Auch die Frage, wer eigentlich pflegebedürftig ist, will er neu beantworten. Noch addiert ein Gutachter die Minuten, die es dauert, einem alten Menschen bei den notwendigen Verrichtungen zur Hand zu gehen – Hilfe beim Zähneputzen, Hilfe beim Ankleiden mit Schuhen, Hilfe beim Ankleiden ohne Schuhe. Eineinhalb Stunden am Tag ergeben Pflegestufe 1, drei Stunden Stufe 2, fünf Stunden die dritte. Doch die Not und Verlorenheit, die Vergessen und Demenz mit sich bringen, berücksichtigen diese Rechnungen kaum. Vor zwei Jahren schlug ein Expertenbeirat im Auftrag des Gesundheitsministeriums Reformen vor, um das zu ändern. Sie fanden viel Zustimmung. Seither ruhen sie.
Ohnehin ahnt jeder, dessen Eltern plötzlich nicht mehr können, dass diese Herausforderung, dieser demografische Wandel allein staatlich finanziert und gelenkt nie wird bewältigt werden können. Es kann nur gelingen, wenn jeder Verantwortung übernimmt. Alle.
Längst kümmern sich mindestens vier Millionen Frauen und Männer um ihre alten Angehörigen, bis zu 37 Stunden in der Woche. Und die Anzahl der Ehrenamtlichen, die Senioren betreuen, steigt. Doch in der Öffentlichkeit wird selten davon gesprochen. Vor allem die berufstätigen Angehörigen schweigen. Es gilt nicht als karrierefördernd, zwischen zwei Geschäftsterminen die Windel der Mutter zu erneuern oder eine Wechseldruckmatratze für den Vater zu besorgen.
Zu Zwei Dritteln sind es die Frauen, die Sorge tragen, es ist die alte eingeübte Rolle. Doch der Anteil der Männer nimmt zu, und auch die Zahl jener eher jungen erwachsenen Kinder, wie ich eines bin, wächst. Viele sind kaum vierzig Jahre alt, manche selbst erst Eltern geworden, sie arbeiten – und plötzlich ist da noch eine Verantwortung. Familie und Beruf zu vereinbaren, heißt mit einem Mal, auch den Vater, die Mutter zu versorgen.
Meist, und vielleicht birgt das die größte Schwierigkeit, sind sie wenig vertraut mit dem Innenleben dieser Eltern. Der Vater war immer der Vater, die Mutter immer die Mutter. Nun sind sie bedürftige Wesen und werden von mächtigen Erinnerungen bestimmt, die sie von ihren Kindern stets ferngehalten haben.
Auch ich wusste nichts von der jahrelangen Haft meines Vaters in einem Zuchthaus der DDR, nichts von den Leichen, die er in Brandenburg aus den Kriegstrümmern barg, nichts von seiner Flucht aus Ostpreußen. Jedenfalls wusste ich nichts Genaues über die Biografie von Horst Hubert Werner Thimm, Jahrgang 1931. Ich fand ihn oft unverständlich wie seine Arbeit im Ministerium; er war karg und großzügig, strikt und liebevoll, prinzipientreu und stur, immer zuverlässig und manchmal schrecklich anstrengend.
Es ist die Generation der Kriegskinder, die da gerade alt wird, jene zwischen 1929 und 1945 geborenen Männer und Frauen, deren frühes Leben von Bomben, Tod, Hunger, Flucht, Vertreibung oder der Furcht vor Vergewaltigung bestimmt war. Zu alt, um der 68er-Bewegung anzugehören, und zu jung, um die Gräuel des Nationalsozialismus zu verantworten, waren sie lange kein Thema gesellschaftlicher Debatten. Sie selbst hatten früh gelernt, zu schweigen. In der Kindheit war ihnen eine Härte gegen sich selbst gepredigt worden, die der von Krupp-Stahl gleichen sollte. Und als alles vorüber war, und sie ihren Platz im Leben gefunden hatten, schwiegen sie fort. Achtzig Prozent der ehemaligen Kinder dieses Krieges haben nie von jener Zeit erzählt.
Allerdings – wer hätte ihre Geschichten auch hören wollen? Mir hätten sie noch vor einigen Jahren nicht gefallen. Geboren 1969, wuchs ich auf mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands. Ein friedensbewegter Pastor konfirmierte mich, meine Lehrer berichteten von 1968 und linksintellektuelle Professoren nahmen meine Universitätsprüfungen ab. Ich interessierte mich nicht für deutsche Kriegskinder. Ich hätte es revanchistisch
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