SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)
Drillmeister euphemistisch: "Welch unendlicher Wert an Liebe ist in den 22 400 Personen dargestellt, die in unseren 1500 Heimen Tag für Tag erzieherisch wirken."
Während die Deutschen unter Konrad Adenauer und Ludwig Erhard draußen neue Freiheit und Wirtschaftswunder erlebten, verbrachten von 1945 bis 1970 schätzungsweise eine halbe Million Kinder und Jugendliche ihre besten Jahre in solchen Anstalten.
"Wer damals misshandelt und in vielen Fällen auch sexuell missbraucht wurde, hat es später in seinem Leben mitunter weitergegeben", sagt der Aachener Herbert Kersten. In dieser Hinsicht hätten sich "die Ordensmänner und -frauen eigentlich am meisten schuldig gemacht".
Kersten gehört zu einer Gruppe von rund 25 ehemaligen Bewohnern des Eschweiler Kinderheims. Sein Bruder, ebenfalls ein Heimkind, wurde als Erwachsener zum Sexualstraftäter. Weil er glaubte, immer nur rückfällig werden zu können, brachte er sich 1998 um. "Daran sind die Nonnen schuld", habe sein Bruder im letzten Gespräch mit ihm geklagt, ehe er aus dem Fenster sprang, sagt Kersten.
Nur vereinzelt waren bisher Täter von damals bereit, mit ihren Opfern zu sprechen. Eine Dernbacher Nonne vom Orden der "Armen Dienstmägde Jesu Christi", die in verschiedenen katholischen Heimen gearbeitet hatte, ließ sich auf das Wiesbadener Ex-Heimkind Alexander Homes ein, als dieser für sein Buch "Gottes Tal der Tränen" recherchierte.
Sie gab zu, mit ihren Mitschwestern "im Namen Jesu Christi" Kinder körperlich und seelisch gequält, gedemütigt und bestraft zu haben: "Auch ich fing an, Kinder zu schlagen, zu bestrafen. Und ich wusste – wie alle anderen Nonnen und Erzieher auch –, dass die Kinder sich nicht wehren konnten. Sie waren uns, unseren Launen, unserer Macht hilflos ausgeliefert."
Man habe bei den Kindern eine große Angst verbreitet, die "ihre Seele und ihren kleinen Körper und ihr junges Leben" beherrschte. Als Unterdrückungsinstrument habe der Glaube gedient. "Durch die Drohung mit Gott", gestand die Schwester, "hatten wir die Kinder unter Kontrolle, auch ihre Gedanken und Gefühle."
Ein Entkommen war kaum möglich. "Nach draußen sind die Türen zu", beschreibt der "Kirchliche Anzeiger" in seiner Weihnachtsausgabe von 1964 vieldeutig das Dortmunder St. Vincenzheim. Und sagt auch ungeniert, warum: Die Mädchen seien "zu schwach für die Freiheit". Ihnen seien "Verantwortung und Pflicht fremde Begriffe", hier würden sie endlich "ordnende Maßstäbe" erfahren. Bei den Eingesperrten entlud sich die Wut über die Unterdrückung mitunter in Verzweiflungstaten. So würgte 1961 eine 18-Jährige die Wachhabende mit den Händen, um an Schlüssel für die Flucht zu kommen.
Heute sind in den meisten dieser Häuser die Spuren der Vergangenheit wegrenoviert, sowohl bei den Fassaden als auch in der Geschichtsschreibung. In Jubiläumsbroschüren wird die Zeit gern übersprungen, und in Ordnern existieren nur noch selten Aktenvermerke oder Fotos, die die dunklen Kapitel belegen könnten.
Der Aachener Jürgen Schubert – bis zum 18. Lebensjahr im St. Johannesstift in Marsberg/Sauerland, das die Barmherzigen Vincenz-Schwestern aus Paderborn unterhielten – scheiterte beim Versuch, seine früheren Peiniger zu verklagen. Er sagt: "Ich wurde immer wieder misshandelt, mit Fäusten und schweren Gegenständen traktiert." Aber es gab keine gerichtsverwertbaren Beweise. Die Nonnen ließen ihn nicht in ihr Archiv.
Auch Gisela Nurthen hat sich vergebens bemüht, irgendeine Spur ihrer Leidenszeit im Dortmunder Vincenzheim zu finden. Die Akten der beteiligten Institutionen – vom Jugendamt bis zum Vormundschaftsgericht – sind unauffindbar oder vernichtet worden.
Nur im Paderborner Mutterhaus der "Kongregation der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vincenz von Paul", die sich Ende 1994 aus der Erziehungsarbeit zurückzog, könnten sich womöglich noch Unterlagen finden lassen. Doch hinter den dicken Mauern dürfen, so eine Order von Generaloberin Schwester Mediatrix, Interessierte nur bis ins Besucherzimmer. Dort führt dann Sprecherin Schwester Gabriele ein ganz besonderes Schweigegelübde vor.
"Wir haben keine Akten", wiederholt Schwester Gabriele nur monoton das Credo des Ordens. "Unsere alten Schwestern, die in den Heimen waren, wollen heute in Ruhe gelassen werden, die möchten wir nicht mehr in solche Gespräche einbeziehen." Schwester Gabriele war in den achtziger Jahren selbst in leitender Stellung im Dortmunder Vincenzheim und will
Weitere Kostenlose Bücher