SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)
schmecken, tasten."
Veröffentlicht in DER SPIEGEL 30/2011
Der SPIEGEL-Redakteur Peter Wensierski ist 2012 mit dem Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet worden. Damit werden Wensierskis Leistungen als Autor von „Schläge im Namen des Herren – Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik“ und seine Mitarbeit am Runden Tisch Heimerziehung, die zur Entschädigung der Betroffenen führt, gewürdigt. Sein Buch basiert auf folgendem Text aus dem SPIEGEL.
Unbarmherzige Schwestern
Priester und Nonnen misshandelten in den fünfziger und sechziger Jahren Tausende Jugendliche, die ihnen in Heimen anvertraut waren. Die damals Betroffenen wollen den Skandal nun aufklären, stoßen aber auf eine Mauer des Schweigens.
Die Umerziehung zu einem wertvollen Mitglied der Gesellschaft begann mit einer Lüge, im Namen des Herrn.
Im Fond des Autos, erinnert sich Gisela Nurthen an jenen Tag im Frühjahr 1961, habe eine fremde Frau gesessen und ihr gesagt: "So, jetzt machen wir einen kleinen Ausflug nach Dortmund, da triffst du viele Mädchen in deinem Alter, es wird dir sicher gefallen."
Gisela Nurthen, damals gerade 15, glaubte ihr und stieg ein. Die Fahrt von Detmold nach Dortmund war kurz, dann hielt der Wagen in der Oesterholzstraße 85 vor einem düsteren Ziegelsteinbau, umgeben von hohen Mauern. Eine Nonne führte das Mädchen in einen Raum, in dem es in wadenlange graue Heimkleidung gesteckt wurde. Der Blick nach draußen war ebenso trist: An den Fenstern fehlten die Griffe, Gitter markierten das Ende aller Sehnsüchte. Aus einer Ecke drang leiser Kirchengesang.
Der Teenager hatte verstoßen gegen Sitte und Anstand, wie sie die junge und prüde Bundesrepublik damals definierte. Trotz des Verbots ihrer allein erziehenden Mutter war Gisela tanzen gegangen, hatte sich am Ende nicht nach Hause getraut, war mit einem Jungen nach Hannover gefahren und am nächsten Morgen beim Versuch, zurückzutrampen, von der Polizei aufgegriffen worden. Nur 24 Stunden später hatte sie der Vormund beim Jugendamt, "weil weitere Verwahrlosung droht", in das Dortmunder Heim geschickt – geleitet von den "Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vincenz von Paul".
So begannen zwei unbarmherzige Lebensjahre, die der erwachsenen Frau noch heute zu schaffen machen. Zwei Jahre lang war das junge Mädchen mitten in Dortmund eine Gefangene, ohnmächtig gegenüber einem perfiden Repressionssystem frommer Schwestern, mit Prügel gezwungen zu Gebet, Arbeit und Schweigen.
Giselas Schicksal teilten in den Anfangsjahren des Wirtschaftswunderlandes viele Gleichaltrige. 1960 trimmten katholische und evangelische Erzieher in rund 3000 Heimen mit 200 000 Plätzen die ihnen Anvertrauten. Sobald sich die Tore der konfessionellen Besserungsanstalten hinter ihnen schlossen, mussten viele von ihnen schmerzhaft erfahren, was damals Buße bedeutete: Misshandlungen, Ungerechtigkeiten, soziale Ausbeutung und Menschenrechtsverletzungen im Namen Gottes und der Kirche, die bis heute unangeklagt und damit ungesühnt sind.
Erst ein Kinofilm beendete die Sprachlosigkeit der Opfer: "The Magdalene Sisters" des britischen Regisseurs Peter Mullan über die Demütigungen und Qualen "gefallener Mädchen" in katholischen Magdalenen-Heimen Irlands. Der Film ermutigte Gisela Nurthen und viele andere einst Weggesperrte, ihr jahrzehntelanges Schweigen über die deutschen Verhältnisse zu brechen: "Die Betreiber der Heime, die Frauen- und Männerorden, die Verantwortlichen in Jugendämtern und Kirchen sind uns noch was schuldig."
Viele ehemalige Heimkinder verstanden die Botschaft des Films, begriffen, dass die Traumata ihrer Kindheit auch deshalb oft noch heute andauern, weil es hier zu Lande kein breites öffentliches Bewusstsein, keine Aufarbeitung ihres Schicksals gegeben hat. Jetzt wollen sie reden über jene, die sie heute noch in ihren Träumen verfolgen und die der deutsche Filmtitel benennt: "Die unbarmherzigen Schwestern".
In Amerika und England verlangen seit kurzem ehemalige Opfer katholischer Heime Entschuldigung und Wiedergutmachung. Sollten sich auch die deutschen Heimkinder dazu entschließen, müssen sie sich wohl auf einen schweren Kampf gegen die Institution Kirche einrichten. Der Vatikan reagierte bislang ähnlich abweisend wie vor zehn Jahren, als die ersten Missbrauchsvorwürfe gegen Priester laut wurden. Und bei der Deutschen Bischofskonferenz, den Ordensgemeinschaften, bei Caritas und
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