Spiegelblut
dir nicht erklärt?«
»Kurz!« Sie schob eine widerspenstige Haarsträhne nach hinten.
»Es liegt an den Seelenhälften. Als sich die Brüder zum allerersten Mal gegenüberstanden, war es, als wäre der eine der Spiegel des anderen. Alle, die Zeuge davon wurden, wussten in diesem Augenblick, dass man die nächsten Halbseelenträger gefunden hatte.«
Sie sah ihn nachdenklich an und runzelte die Stirn: »Aber wir beide sind keine Halbseelenträger! Wieso haben wir uns dann genauso verhalten?«
Er beugte sich zu ihr hinunter, sah ihr tief in die Augen und freute sich diebisch, als sie seinem Blick standhielt, ohne mit der Wimper zu zucken. »Weil du ein Spiegelblut bist!«
Jetzt schwieg sie, versuchte abzuschätzen, ob er es wirklich wusste oder einfach nur spekulierte. Ihr Mund öffnete sich, aber sie sagte nichts, schüttelte nur den Kopf.
Er seufzte. »Wie lange willst du dieses Spiel noch spielen?«
»Angenommen, ich wäre ein Spiegelblut …«, setzte sie an. »Nur mal rein hypothetisch!«
»Rein hypothetisch!«, stimmte er ihr zu und lächelte, als sie auf die hohe Leiter kletterte, um das Buch zurückzustellen, in dem sie die ganze Zeit gelesen hatte. Natürlich tat sie das nur, um Beiläufigkeit vorzutäuschen.
»Wie könnte ich den Fluch brechen?«
»Das dürfte ich dir nicht sagen – angenommen, du wärst eins – und angenommen, ich wüsste es.«
»Wieso nicht?«
»Weil du es selbst herausfinden müsstest.«
»Und wie?«
»Ich denke, dafür würden die Engel schon sorgen, Schritt für Schritt – angenommen, du wärst eins, rein hypothetisch!« Das Spiel begann ihm Spaß zu machen, vor allem, weil er es gewann. »Was hast du denn eben gelesen?«
»Nichts Besonderes, ein bisschen was über Siegel.«
»Interessierst du dich dafür?« Er wollte mehr über sie erfahren, wollte wissen, was sie interessierte. Sie hätte ihm die Bibel vorlesen können, und er hätte an ihren Lippen gehangen wie ein Säugling an der Brust. Er empfand nicht nur etwas für sie, er begehrte sie auch. Eine schlechte Kombination, leider gehörte aber zu der Liebe bei ihm auch immer das Begehren.
Sie nickte, blieb oben auf der Leiter stehen und sah auf ihn herab, so wie Cheriour auf ihn nieder sah, wenn er ihm gegenüberstand.
»Ich habe das Siegel für Eth gesucht, einen der drei Äonen-Engel. Und das für El Auria – das ist ein schöner Name, oder?« Sie lächelte fast scheu. Durch den schmalen Spalt zwischen der hohen Decke und dem obersten Regalfach spähte sie zum Ausgang.
»Raven hat dir viel Wissen preisgegeben.«
»Von Damontez erfahre ich ja so gut wie nichts«, sagte sie mürrisch.
»Der einfach Grund ist, dass er dir so wenig wie möglich über unsere Welt verraten will, wenn du nicht dazugehörst.«
»Und ein Spiegelblut gehört dazu?«
Er nickte. »Natürlich.«
»Pontus – ich habe viele Siegel gefunden. Das von Eth ist eine liegende Acht, gelb.«
»Eine Lemniskate, ja. Das Zeichen für die Unendlichkeit. Bei Myra zeigt sich inzwischen der erste Kreis.«
»Das von El Auria ist eine Feuersonne. Das Symbol für Flammenkraft.«
Wieder nickte er. Raven hatte sie unwissentlich auf die richtige Fährte gesetzt. Er selbst trug daran überhaupt keine Schuld. Cheriour kann mich mal , dachte er, als er sich in einem kurzen Moment an seinen Auftrag erinnerte, den er bereits ad acta gelegt hatte. Vorerst zumindest.
»Ich habe auch das von Hamied, dem Engel der Wunder, entdeckt. Das Symbol ist eine weiße Sieben, aber ohne Strich in der Mitte. Ist deswegen die Ziffer Sieben immer so mit den Märchen unserer Welt verbunden? Weil es Wunder nur in Märchen gibt? Oder hat sich Hamied für die Sieben entschieden, weil er wusste, dass die Sieben bei den Menschen eine bedeutende Rolle spielt?«
Pontus musste lächeln über das größte Wunder, das sie aufgrund der vielen Fakten übersah. »Man sagt, in sieben Tagen schuf Gott die Erde. Lässt du das als Wunder gelten?«
»Aber das behaupten doch nur die Menschen! Was war zuerst da?« Ein weiteres Mal glitt ihr Blick durch den Spalt zu dem Portal. »Die Henne oder das Ei? Die Bedeutung oder das Symbol?«
Sie hatte scheinbar nicht vor, in diesem Leben wieder von der Leiter herunterzuklettern.
»Ich habe auch das Siegel für Illusion gefunden. Das Gabelkreuz, das seine Form verändern kann.« Sie setzte sich auf den oberen Tritt. »Aber letztlich ist es ein Gabelkreuz.«
»Ja, ein Schächerkreuz. Manche sagen, es steht für den Baum der Erkenntnis im Garten
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