Spiegelblut
sahen, sondern ein anderer Sinn. Vielleicht der, wegen dem sie mich Spiegelseele nannten. Ob es die Seelen der Engel waren? Kyriel war mir damals im Schnee fast menschlich erschienen. Das hier war anders. Es war wie in einem Traum, wenn man jemanden in einer anderen Gestalt sieht und doch weiß, wen man vor sich hat. Oder war ich es, die eine andere Gestalt hatte?
Ich blieb wie erstarrt stehen und atmete ein paar Mal tief durch. Wer war ich? Wer waren sie? Ihr Bild war wie ein vertrautes Feuer in meiner Seele, das Verlangen, sie zu rufen wie kaltes Eis, das im Herz brannte. Ich bin hier! Bitte nehmt mich mit! Geht nicht ohne mich! In Gedanken flehte ich ein stummes Gebet. Amatiel, der Engel der Wahrheit, hielt in seinem goldenen Himmelstanz über den Lichtträgern inne. Hatte er mich verstanden? Oder waren es Illusionen, von Lichtträgern heraufbeschworen?
Aber sie verschwanden nicht. Nach einer Weile watete ich im Wasser weiter und drehte mich hin und wieder zu den Lichtern um. Sie waren da. Ich war mit ihnen verbunden.
Spiegelblut. Spiegelseele. Engelskind.
Ich hatte mich schon ein ganzes Stück von der Gruppe entfernt. Damontez hätte das sicher nicht gewollt. Aber es war befreiend, außerdem hatte ich drei Aufpasser. Nur noch fünf Minuten im See entlang waten, dann würde ich zurückgehen. Eine kleine Brise kräuselte die Wasseroberfläche. Ich musste an meinen Traum denken.
Ich bin im Wind!
Die Grasspitzen zu meiner Linken wogten sacht wie ein blaugrünes Meer.
Vorsichtig spähte ich zu den alten Bäumen. Das Gefühl meines Traumes kehrte zurück. Ein Wesen wie Schall und Rauch, wie Nebel. Weiß und groß. Vertraut. Aber da war noch etwas. Eine kleine Gestalt huschte hinter zwei Baumstämmen hin und her. Sie hatte zimtfarbenes Haar. Mein Herz stand fast still.
Finan!
Der Schreck fuhr in mich und lief als eiskalter Schauer durch mich hindurch. Meine Beine waren wie gelähmt und doch begann ich aus dem Wasser zu laufen, zog wie in Trance meine Lammfellstiefel über. Dort im Wald war Finan! Ich glaubte nicht an Geister, aber ich vertraute meiner Spiegelsicht. Ich konnte meinen toten Bruder mit meinen Sinnen sehen. Vielleicht konnte ich sogar mit ihm sprechen. Ich sah zu den drei Vampiren. Sollten sie mir doch nachrennen. Verwundert nahm ich wahr, dass sie mich überhaupt nicht beachteten, sondern ihren Blick auf eine braunhaarige Lichtträgerin auf einer entfernten Klippe richteten. Auch gut.
Ich stolperte über das Gras. War er noch da? Ich hatte den Waldrand fast erreicht, blieb kurz stehen, um durchzuatmen. Immer noch kämpfte ich mit den Nachwehen meines Fiebers und kam viel zu schnell außer Puste. Es war still. Nur mein leises Keuchen war zu hören.
»Finan?« Ich hob meine Stimme ganz leicht. Ein Rascheln schreckte mich auf. Es kam aus dem Unterholz. Ein trockener Ast knackte, dann sprang Finan wieder zwischen den Bäumen umher, als würde er tanzen. Vielleicht konnte er jetzt, da er tot war, sehen.
Natürlich kann er sehen. Tote können alles! Außerdem ist er es ja nicht wirklich, es ist deine Spiegelsicht. Vielleicht ist es seine Seele …
»Finan! Bleib stehen!« Ich hatte mich mit kleinen Schritten an den Waldrand vorgearbeitet und stützte mich atemlos an einem der knorrigen Baumstämme ab. »Ich muss mit dir sprechen!«
»Coco?« Als er meinen Namen ausrief, dachte ich, mein Herz würde explodieren vor Kummer und Glück. Als ich einatmete, hatte ich das Gefühl zu ertrinken. So oft hatte ich mich nach dieser Stimme gesehnt.
»Finan!« Tränen schossen in meine Augen, ich streckte die Hand in seine Richtung, aber er stand zehn Meter von mir entfernt. Er sah genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Alles kam zurück. Unser Geburtstag, das Labyrinth, das Blut. Er trug sogar wieder die dunkelblaue Jeans und das gelb gestreifte T-Shirt mit dem weißen Kragen.
»Finan …« Ich arbeitete mich durch das Geäst. Die verholzten Triebe blieben an meiner Jacke hängen. Ich verhakte mich und kam nicht mehr weiter, zappelte kurz herum, aber es half nicht. Ungeduldig schlüpfte ich aus dem Daunenblouson und ließ ihn im Griff der Dornenhecke zurück. Ich durfte Finan jetzt nicht verlieren.
»Finan, bleib stehen!« Er huschte weiter von Baum zu Baum wie ein Eichhörnchen von Ast zu Ast. Immer wieder lugte er hinter einem der Stämme hervor. Seine schokoladenbraunen Augen blitzten im blassen Mondlicht. Er war so hübsch, selbst seine Augen waren immer schön gewesen.
»Finan, wo willst du
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