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Spiegelblut

Spiegelblut

Titel: Spiegelblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uta Maier
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hin?« Meine Stimme überschlug sich.
    »Coco!« Endlich war er stehen geblieben. Mein Name klang hohl aus seinem Mund. Leer. Gespenstisch. Er sah mich fragend an. Ich wusste, was er sagen wollte: Warum hast du mich allein gelassen? Er wirkte auf einmal wie ein verschüchtertes Kind.
    Ich hob beschwichtigend die Hände. Ich wusste nicht, wie sich eine Seele auf dieser Welt fühlte, wenn sie sich jemandem zeigte. »Hab keine Angst, Finan. Ich bin’s, Coco.«
    »Ja, ich weiß!« Sein Flüstern hangelte sich zu mir herüber wie ein Äffchen. »Ich weiß, wer du bist.« Seine Lippen zitterten. »Wo warst du denn so lange? Ich habe dich gesucht. Ich habe den ganzen Himmel nach dir abgesucht!« Er hörte sich verzweifelt an und auch vorwurfsvoll. »Plötzlich warst du einfach nicht mehr da.« Er schüttelte den Kopf. »Sie sagen, ihr könnt uns erst sehen, wenn ihr sterbt.«
    »Aber ich lebe, Finan.« Ich rang nach Worten, es gab so vieles, was ich ihm sagen wollte. Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte, und hatte Angst, es würde mir nicht genug Zeit bleiben. »Jedes Jahr habe ich an unserem Geburtstag an deinem Grab gesessen und mir gewünscht, ich würde dort liegen und nicht du.« Eine Träne löste sich aus meinem Auge und rann über die Wange. »Es tut mir leid. In all den Jahren wollte ich es dir so gerne sagen … dass es mir leidtut. So leidtut. So unendlich leidtut, dass ich dich im Stich gelassen habe.« Jetzt strömten die Tränen ungehindert über mein Gesicht. »Nur diese vier Worte. Mehr hatte ich nicht, weil es nichts zu sagen gab.« Ich stolperte unbeholfen nach vorne. »Verzeihst du mir?« Das war die wichtigste Frage, die seit sieben Jahren ohne Unterlass in meinem Herzen brannte. Mittlerweile war ihr Feuer so klein, dass ich es manchmal kaum noch wahrnahm, doch es war nie ganz erloschen. Tote können nicht mehr verzeihen. Aber vielleicht konnte seine Seele mir Vergebung zusprechen. Es war das Einzige, das ich mir in diesem Augenblick wünschte. Wenn er mir jetzt sagte, dass alles vergessen war, würde ich wieder leben können. Dann wären mir alle anderen Umstände egal.
    »Komm!« Er winkte mich verheißungsvoll zu sich. »Komm her!« Ich streckte glücklich die Arme zur Seite, um mich unter den Ästen durchzuwinden. Mein Herz klopfte wie verrückt. Endlich bekam ich meine Chance. Aber kurz bevor ich ihn erreichte, rannte er wieder los.
    »Finan? Verzeihst du mir?«, rief ich durch das Unterholz in die Nacht. »Warum rennst du weg? Bitte bleib doch stehen!« Ich lief ihm nach. Minuten? Stunden? Sein Zimthaar flatterte im Wind, das Shirt bauschte sich hinter ihm auf. Ich wurde langsamer, verlor ihn fast. Mehrmals stolperte ich wegen des Wechselspiels aus Licht und Schatten. Hell-dunkel-hell-dunkel. Die Anstrengung machte mich schwindelig. Oder war es eine düstere Vorahnung? Wieso sollte sich mir Finan ausgerechnet hier zeigen?
    Irgendwann blieb er auf einem Baumstumpf stehen und drehte sich mit einer Pirouette zu mir um. Meine Knie wurden weich. Die weißen Streifen seines T-Shirts waren blutdurchtränkt. Rasend schnell breitete sich das Blut über ihm aus – wie ein Ölteppich auf stillem Gewässer.
    »Sie sagen, ihr könnt uns erst sehen, wenn ihr sterbt«, sagte er mit schleppender Stimme. Meine Hände wurden eiskalt.
    »Aber ich sterbe doch nicht«, wisperte ich fast lautlos. »Ich bin ein Spiegelblut, darum kann ich dich sehen.«
    Ich ging auf ihn zu und hatte plötzlich Todesangst.
    »Finan«, flüsterte ich. »Verzeih mir! Bitte, verzeih mir!« Ich sah mich nach allen Seiten um. »Es ist nicht real.« Ein Schauer jagte mir über den Rücken. »Du warst niemals hier, oder? Ein Spiegelblut kann keine Seelen von toten Menschen spiegeln.« Ich stürzte verzweifelt auf ihn zu.
    »Es wird wieder Frühling«, sagte er ernst. »Er ist ganz nah, Coco.«
    Ich schluchzte auf, versuchte ihn anzufassen und griff ins Leere. Ganz allein stand ich mitten im Wald. Finan war eine Illusion gewesen. Alles hier war eine Illusion. Die Lichtreflexionen: hell-dunkel-hell-dunkel. Irgendwann war ich durch eine Raumkrümmung gestolpert und in einer Illusion weitergerannt.
    Furchtvoll sah ich mich um. Von irgendwoher drang ein Lied durch die hohen Stämme. Es kam von allen Seiten, war in den Schatten des Waldes und in mir drin. Mein Blut war für ihn der Frühling, von dem er sang. Vielleicht war sogar ich sein Lied. Ich konnte nicht schreien, ich konnte nicht atmen, und doch fing ich an zu wimmern vor reiner, nackter

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