Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spiegelblut

Spiegelblut

Titel: Spiegelblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uta Maier
Vom Netzwerk:
wehrte. Immerhin war sie Novizin, zwar die mit dem mächtigsten Siegel, aber eben eine Anfängerin, die sich gegen eine Mittvierzigerin mit jahrelanger Erfahrung behaupten musste.
    Myra wich den gezielten Schlägen von Anne geschickt aus. Mit langen Ausfallschritten drängte ihre Gegnerin sie zurück auf die angrenzende Wiese, doch Myra konterte, indem sie sich durch einen aalglatten Salto außer Reichweite brachte. Sie schien sich schneller zu bewegen als Anne, die wie im Zeitlupentempo ausholte. Bis mir klar wurde, was Myra tat. Sie hatte für Anne die Zeit verlangsamt, um sich selbst in Sicherheit zu bringen. Aber das Zeitfenster brach zusammen, fast gleichzeitig sauste ein Schwarm Kraniche über Myras Kopf hinweg und direkt auf mich zu. Ich duckte mich erschrocken und hörte Ashlynn lachen.
    »Das ist nur eine Illusion«, rief sie mir zu. »Hier gibt es schon lange keine Kraniche mehr.«
    »Ach so.« Ich kam mir ziemlich albern vor.
    Allerdings brachten die großen Vögel Myra ganz schön durcheinander.
    Als mir die Illusionen zu viel wurden, beobachtete ich Fernando und Olivia. Die junge Lichtträgerin war hübsch, das lange Haar wippte bei jeder Parade, und ich fragte mich, welches Siegel sie wohl trug. Ich konnte es nicht deutlich erkennen, oder aber es war einfach noch zu schwach. Fernando bekam seine Kräfte von El Auria, dem Flammenengel. Feuerkugeln schossen durch die Luft und explodierten auf Olivias Brust. Da die Novizin mehrfach fluchte, schloss ich daraus, dass El Auria keinen Spaß verstand. Die Treffer waren schmerzhaft. Ich achtete bei Olivia auf jede Bewegung. Sie war gewandt mit dem Speer, besser als Fernando, und sie schaffte es stets, sich aus seinen Manövern herauszuwinden.
    Der Reihe nach betrachtete ich mir die Übenden, staunte über Feuer- und Wasserspiele, Illusionslichter, die wie Feuerwerksfunken über den Platz geisterten, fantastische Gestalten bis hin zu Noahs kleinen Raumspalten, in die er sprang und wieder auftauchte, weil sie ihn noch nicht fortbringen konnten. Sein Lachen war sympathisch und schalkhaft, ich bedauerte es ein bisschen, dass ich so wenig Kontakt zu den anderen Novizen hatte.
    Irgendwann drehte ich den Lichtträgern den Rücken zu und blickte auf den Seespiegel. Meine Gedanken verloren sich wie die Konturen der anderen Seite. Mit der Spiegelsicht erkundete ich den Himmel, aber er blieb für mich unergründlich. Kein Duft, kein Geschmack, als wäre er nicht real.
    Ich stand auf und lief ein paar Meter an den Klippen entlang, sprang dann nach unten auf den schmalen Streifen groben Sand und spazierte ein Stück am Ufer geradeaus. Mir war bewusst, dass ich mich in dem klaren Wasser spiegeln würde. Ich hätte hineinsehen können, um meine Kräfte zu schwächen, um endlich zu sehen, wer ich war. Nie hatte ich mich stärker nach meinem Spiegelbild gesehnt als jetzt. Ich war Coco Lavie, ein Spiegelblut. Das Mädchen aus Glasgow, das Opern und die Fancy-Freaks liebte, existierte längst nicht mehr. Sekundenlang war ich tatsächlich versucht, in das seichte Wasser zu waten, um mich in dem glasklaren Bild zu finden.
    Hadurah war der Engel des Wassers und der Reflexion. Würde sie zurückschauen, wenn ich hineinsah? Ich musste über diese Vorstellung lächeln. Doch nach ein paar Minuten kam er mir gar nicht mal so abwegig vor. Und ein neuer schrecklicher Gedanke fand den Weg in meinen Kopf: Hatte ein Spiegelblut überhaupt ein Spiegelbild? Oder ging es mit den Kräften verloren?
    Ich merkte gar nicht, wie ich die Lammfellstiefel abstreifte und mich meiner Socken entledigte. Etwas zog mich zum See, ein Wunsch, ein Ruf, ich wusste es nicht. Das kalte Wasser umspülte meine Füße. Ich sah nicht hinab, sondern lief weiter. Meine Jeans sog sich mit dem Seewasser voll und machte meine Schritte schwer. Die Stimmen der Lichtträger rückten in weite Ferne.
    Unschlüssig blieb ich stehen und bohrte meine Zehen in den Grund. Ich war nicht allein. Die drei Vampire folgten mir, aber das war es nicht, was ich spürte. Ich hatte es die ganze Zeit schon unbewusst wahrgenommen, doch in der Lautstärke und dem Trubel der Kämpfe war es untergegangen. Da war eine Präsenz, fein, wie zerstäubtes Parfüm in einem verlassenen Zimmer. Ich drehte mich um und sah zum Kampfplatz zurück. Die Engel der Lichtträger schienen über ihnen zu schweben wie Geister. El Auria, Eth, Nisroc, Amatiel, Azrael … Ihre Silhouetten verwoben sich golden mit der Nachtluft, aber es waren nicht meine Augen, die sie

Weitere Kostenlose Bücher