Spiegelblut
die Hände zu Fäusten. Vielleicht sollte ich ihn fragen, weshalb er mich gerettet hatte. Aber hatte er das? Ebenso gut konnte es sein, dass er gleich über mich herfiel.
»Das warst du in der U-Bahn«, sagte ich wenig geistreich. »Wieso hast du mich nachgeahmt wie ein Spiegel?« Das Verdammt verkniff ich mir gerade noch rechtzeitig.
Er hob die Schultern: »Vielleicht hast du auch mich gespiegelt. Wer kann das schon sagen?«
»Ich …« Verwirrt brach ich den Satz ab. »Willst du mein Blut?« Ich war bisher immer dafür gewesen, Nägel mit Köpfen zu machen, und ich war das Katz-und-Maus-Spiel leid.
»Natürlich.«
Ich taumelte kurz, als hätte seine Antwort mir einen Schlag verpasst.
»Aber ich hole es mir nicht, keine Angst.« Er kam auf mich zu und beschrieb mit einer Hand eine beruhigende Geste in der Luft. Erst jetzt fiel mir auf, wie groß er war. Er überragte mich mindestens um einen Kopf. Seine Schultern waren nicht ganz so breit wie die von Eloi, trotzdem erschien er ungleich muskulöser. Schritt für Schritt wich ich zurück.
»Wieso hast du mich vor Kjell gerettet?« Ich stieß mit dem Rücken gegen ein zerschlissenes Kabel, das aus dem Gemäuer herausragte. Nicht zu wissen, was er mit mir vorhatte, war fast schrecklicher als die Gewissheit, gleich Blut lassen zu müssen. Fast!
»Ich habe einen Eid geleistet, dich – oder vielmehr deine Art – zu schützen. Und ich breche meine Versprechen niemals. Das kannst du dir für die Zukunft merken.«
Welche Zukunft? Welche Art? »Wem hast du es versprochen?«
»Unwichtig für den Moment. Sagen wir mal einem Freund.« Er hatte mich erreicht und beugte sich über mich. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht vor Angst loszuheulen. Kein Atem, nur Kälte. Wie damals. Trotz meiner Panik erfasste ich jedes Detail seines Gesichts. Nordisch und klar, aber auch weich wie das eines Schutzheiligen. Die Nase nicht zu klein und nicht zu groß, die schmalen, blassrosa Lippen irritierend gleichmäßig geschwungen. Mit sehr viel Mut nahm ich den Blick höher und sah in seine Augen. Hellblau wie arktisches Eis – und glitzernd, als spiegelte sich der Himmel mit all seinen Sternen darin. Aber nicht romantisch, sondern tot und kalt. Und doch so geheimnisvoll … eine Sekunde lang überlegte ich tatsächlich, dass es nicht das Schlechteste wäre, durch seine Hand zu sterben. Er blinzelte nicht. Gar nicht.
Ich öffnete den Mund, um irgendetwas zu sagen, brachte jedoch nichts zustande und starrte stattdessen immer weiter in dieses junge und ewige Gesicht. Wäre er ein Sterblicher, hätte ich ihn auf Mitte zwanzig geschätzt, etwas älter als die Kirklee-Vampire. Und trotz der engelhaften Unschuld wirkte er grausamer als sie. Und kompromissloser. Vielleicht auch erfahrener.
»Ich will nach Hause«, sagte ich irgendwann schwach. Meine Knie zitterten immer noch.
»Ich fürchte, das ist nicht möglich. Besser du gehst freiwillig mit mir mit, ansonsten bin ich gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen, die dir nicht gefallen könnten.«
Warum ich mich überhaupt gegen ihn auflehnte, war mir schleierhaft. Ich hatte nie eine echte Chance. In einem Anfall verzweifelter Wut und Panik versuchte ich wegzulaufen, und wusste gleichzeitig, dass es zwecklos war. Aber in dem Moment dachte ich nur an meinen kleinen Triumph auf der Friedhofsmauer, meinen ungewöhnlichen Zorn und mein neues Leben. Als er mich mit kalten Fingern im Genick packte, fühlte ich weder Schmerz noch hatte ich Angst, da war nur Wut. Ich erwischte seinen rechten Arm und biss zu – sehr fest.
»Exsecratum!« Ganz kurz lockerte sich sein Griff, und ich rannte wie nie zuvor in meinem Leben. Das Schild Notausgang war schon zum Greifen nah, als meine Beine plötzlich schwer wurden. Das bleierne Gefühl breitete sich von meiner Lendenwirbelsäule bis in die Fußspitzen aus, als pumpte mein Herz gegen eine fremde Macht an. Ich sog nach Luft und hörte mich an wie ein Blasebalg. Die beschmierten Wände drehten sich um mich herum und ich streckte reflexartig die Arme aus, taumelte seitwärts. Wieso dreht sich alles? Kannst du das vielleicht wieder abstellen?
Ich leckte mir unbewusst über die Lippen – ein Geschmack nach dunklem Kakao und Maulbeeren, nach geheimnisvollen Farben in der Dunkelheit. War das sein Blut? Die Halle kippte zur Seite. Ich wollte weiterrennen, begriff jedoch irgendwann, dass ich auf dem Boden kniete. Speichel sammelte sich in meinem Mund, zusammen mit Pontus’ Blut. Die bittere Süße breitete
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