Spiegelblut
wahrhaftig unsterblich und würde selbst dann noch auf der Erde festsitzen, wenn sich der Himalaja wieder in sich zusammenfaltete und das letzte Sonnensterben begann.
Er hatte Cheriour nie nach dem Grund gefragt, warum das Spiegelblut sterben musste.
In der U-Bahn hatte sie so traurig ausgesehen. Er schüttelte den Kopf. Seine Rührseligkeit war eine mittlere Katastrophe. So konnte er Damontez unmöglich unter die Augen treten, vermutlich wirkte er sogar noch verträumter, als er sich fühlte. Pontus Wallin? Verträumt? Wegen des Spiegelblutes?
Er wandte den Blick von ihr ab. Die Einsamkeit der Highlands war trügerisch. Die Seelenlosen lagen mittlerweile überall auf der Lauer. Auch hier – und sein Auftrag bestand darin, das Spiegelblut sicher zu einem Halbseelenträger zu bringen und es zu beschützen.
Die Welt, in die er sie brachte, war grausam. Eine Welt, in der die Worte Ehre, Gehorsam, Blut und Treue eine andere Bedeutung hatten als bei den Menschen. Eine Welt, in der ein Menschenmädchen nicht mehr war als Blutware, zumindest bei den seelenlosen Vampiren. Blutware, Blutwetten, Blutmädchen – und all diese makaberen Vergnüglichkeiten zum Zeitvertreib. Sie ekelten ihn an wie das Blut der Vorstadthuren.
Erinnerungen an früher fächerten sich vor ihm auf wie Handkarten. Mesopotamien, Euphrat und Tigris, Griechenland, Rom … Es hatte eine Zeit gegeben, in der alle Vampire noch ihre Seele besaßen. Doch reichte bereits eine einzige Tat seelischer Grausamkeit aus, um sie ihnen zu nehmen. Nicht der Tod, den sie brachten, wenn sie einem Opfer zu viel Blut nahmen, sondern das zugefügte Leid war der Maßstab. Ein Vampir, der kaltblütig tötete, verlor seine Seele. Zunächst waren es nur eine Handvoll Seelenlose gewesen. Man nannte sie Nefarius. Die Angelus, die Vampire, die ihre Seele noch besaßen, ächteten sie, schlossen sie aus und grenzten ihre Jagdgebiete ein. Im 21. Jahrhundert hätte man sie rückblickend als Randgruppe bezeichnet. Die Nefarius waren zu keinen guten Gefühlen mehr fähig, weder zu Mitleid noch zu Liebe. Sie lebten allein für Blut und Begehren – und natürlich strebten sie nach Macht.
Im Laufe der Jahrhunderte stürzten immer mehr Vampire in die Seelenlosigkeit. Heute existierten die beiden feindlichen Gruppen nebeneinander, aber die Seelenlosen wollten ihre Unterdrücker am Boden sehen. Das Resultat waren heftige Clankriege, gegen die sogar das Königshaus in Rom machtlos war. Selbst die Lichtträger ergriffen mittlerweile Partei für eine der beiden Seiten. Zu den Lamiis Angelus, den Beseelten, aus ehrenhaften Gründen. Zu den Lamiis Nefarius, den Seelenlosen, weil diese sie mit Macht, Geld und schönen Frauen lockten. Und manchmal auch einfach deshalb, weil sie von den Nefarius mit dem Leben ihrer Familien erpresst wurden. Mafiamethoden eben.
Pontus seufzte leise und drehte sich wieder zu seiner wertvollen Fracht um. Wenn Coco ein Spiegelblut war, dann wäre sie für jeden Seelenlosen wie der Heilige Gral.
Sie hat Kjells erste Liebe gespiegelt. Das Jahr 1792, Paris, die Französische Revolution – Camille. Der Nachname des Mädchens war ihm entfallen. Sie hatte in der Rue de Turin gewohnt und jeden Abend auf ihrem Cembalo gespielt. Allabendlich hatte Kjell den Klängen von der Straße aus gelauscht. Aber als er seine Seele verlor und zu einem Nefarius wurde, verblassten alle Erinnerungen an das Gefühl der Liebe. Coco hatte es ihm für Sekunden wiedergebracht. Sie musste es einfach sein!
Auch wenn er die Gefahr kannte, die hier zwischen Weideflächen und Heidekraut lauerte, blieb er fünf weitere Minuten in der Stille der Nacht stehen und beobachtete das Heben und Senken ihrer Brust. Ganz kurz brach die Bitterkeit aus seinem Herzen hervor, machte ihn zornig auf sich selbst und auf seinen Auftrag.
Coco würde ein Teil seiner Welt werden, denn ob sie nun ein Spiegelblut war oder nicht: Sie würde sich immer erinnern, weil sie sein Blut getrunken hatte. Ihr Gedächtnis war nicht mehr zu manipulieren. Und so wie sie aussah und den Duft ihres Blutes verströmte, das liebliche Aliquid Sanctum, wie Kjell es genannt hatte: Man würde sich auch immer an sie erinnern!
Er beugte sich dicht an die Scheibe, legte die Stirn an das Glas, atmete wieder, lächelte, als seine Lungen unter der Anspannung kribbelten. Sein Blick verfing sich in ihrem zarten Gesicht. Ihre Augen waren indigoblau, das war ihm vorhin als Erstes an ihr aufgefallen. Nicht einfach nur blau, sondern ein Farbton,
Weitere Kostenlose Bücher