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Spiegelblut

Spiegelblut

Titel: Spiegelblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uta Maier
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Düfte Wörter haben? Hast du jemals gefühlt, wie weich Freundschaft auf den Fingerspitzen kribbelt, könntest du sie berühren? Kannst du alles beseelen – siehst du es mit den Sinnen der Engel?«
    »Mit den Sinnen der Engel?«, wiederholte ich betroffen, ohne seine Frage zu beantworten. Hier war ich, ich, die den Geschmack des Himmels suchte, seit ich neun Jahre alt gewesen war und Finan mir diese Frage gestellt hatte. Ich, die ich Zorn auf der Zunge geschmeckt hatte wie eine Schwertklinge, wie einen Triumph über meine Angst vor den Spiegeln; und ich, die die Nacht aus Pontus’ Blut gekostet hatte, gleich einer flüssigen Essenz aus Kakao und Maulbeere, und mich seitdem danach sehnte, mehr davon zu bekommen. Spiegelsichtig, schön, dass es ein Wort dafür gab und ich nicht verrückt wurde. Ja, ich war spiegelsichtig. Daran hatte selbst ich keine Zweifel. Doch ich antwortete nur: »Keine Ahnung, was du meinst. Warum sollte denn Zorn einen Geschmack haben?« Ich schraubte meinen Blick beharrlich am Boden fest und versuchte, ein möglichst unschuldiges Gesicht aufzusetzen.
    »Die Spiegelsicht ist eine Fähigkeit, die auch manche Menschen haben können, allerdings nie in dem vollen Ausmaß wie ein Spiegelblut. Man nennt solche Menschen Synästhetiker. Die Spiegelsicht ist eine der weniger aussagekräftigen Merkmale, aber«, sagte er und umfasste mein Kinn, um meinen Blick zu heben, »sie muss vorhanden sein. Eine Spiegelseele sieht mit den Augen der Engel, sofern sie das möchte. Erst nach und nach lernt sie, die beiden Welten voneinander zu trennen.« Am liebsten hätte ich seine Hand weggeschlagen. Sein energischer Griff schmerzte an meinem Kiefer. »Ein Spiegelblut kann Farben blind erfühlen.«
    »Ich bin dann wohl keins«, murmelte ich und zog krampfhaft meine Schultern zusammen. Ich wich ihm aus, er hatte nicht verlangt, dass ich ihn ansehen musste. Mein Blick fiel auf eines der Glasmosaike auf der linken Seite. Das Gemälde zeigte einen majestätischen Engel mit gewaltigen, weißgoldenen Flügeln. Sein Antlitz war despotisch, nicht sanft; sein flammendes Silberschwert blitzte im Glanz eines Himmelsstrahls und durchtrennte etwas sehr Filigranes, das aussah wie Blattgold. Zu seinen Füßen kniete ein weinendes Mädchen. Ihr Gesichtsausdruck war verstört und unter ihr glänzte das Mosaik rot, rot wie Blut. Das Schlimmste war jedoch das blanke Entsetzen in ihren Augen über das, was geschehen war. Was war geschehen? Das Bild war wichtig, ich wusste nicht, wieso ich das dachte, vielleicht weil Damontez mich so lange gewähren ließ. Irgendwann merkte ich, dass auch er in das Kunstwerk versunken zu sein schien. Auf eine düstere, morbide Art war es wunderschön. Es erzählte von Schuld und Sühne.
    »Möchtest du mir etwas sagen?« Er gab mich frei.
    »Ich bin kein Spiegelblut«, brachte ich nur hervor. Aber es hörte sich nicht wie eine Feststellung an, sondern wie eine verzweifelte Bitte.
    »Ich bekomme es heraus, Coco-Marie.« Sein Blick signalisierte mir seine absolute Bereitschaft dazu. Er sagte: Ich werde suchen, mit allen Mitteln, und was immer du versteckst, ich werde es finden.
    Er schenkte mir nichts, kein freundschaftliches Wort, kein Lächeln, keine Wärme. Außerdem hatte er meinen vollen Vornamen benutzt, den ich hasste und geheim hielt, seit ich denken konnte. Ich wollte gar nicht wissen, wie er ihn herausbekommen hatte. Mir genügte allein die Tatsache, dass! Damit demonstrierte er mir, wie viel er in der kurzen Zeit, die ich bei ihm war, schon über mich wusste. Vielleicht hatte er ja sogar mit Eloi gesprochen. Diesmal zwang ich mich, seinen Blick zu erwidern: Das werden wir ja sehen!, signalisierte ich ihm mit einem Zorn, der in meinem Mund hätte funkeln müssen.
    Er runzelte ärgerlich die Stirn, bevor er fortfuhr: »Die dritte und geläufigste Bezeichnung ist Spiegelblut.«
    Ich zog die Augenbrauen hoch und konnte mich nicht zurückhalten: »Ist ja kaum zu glauben.« Eins-zwei-drei-vier … die Luft um mich herum funkte, als stünde sie unter Hochspannung. Mein Lachen war ein Reflex, die Hände vor dem Gesicht eine Angewohnheit aus meinem alten Leben. Angst flutete durch meine Adern und in meiner Mitte entfaltete sich ein gleißendes Origami zu einem silberglatten Transparent, das mich innerlich blendete wie Sonnenlicht. Das Flüstern begriff ich nur mit meinem Gefühl:
    Lebst du immer noch von Einsamkeit zerfressen auf deinem Schloss? Sie sagen, kein Laut, kein Lachen dringt nach außen.

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