Spiegelblut
Schützt du unsere Seele noch, wie mein Vater es verlangte? Wer ist SIE?
Keuchend hielt ich mir die Hände vor die Augen, im irrsinnigen Glauben, die Helligkeit könnte aus mir herausdringen und mich verraten. Ich stolperte rückwärts und stieß an eine der Stuhlreihen, die links und rechts des Mittelgangs aufgestellt waren. Mit dem Hintern zuerst landete ich auf dem Boden, das Transparent zog sich zusammen wie eine Ziehharmonika aus Glanzpapier. Spiegelseele , flüsterte eine Stimme in mir. Die erste Fähigkeit.
7. Kapitel
»Das große Bild gibt sich nicht als Bild
zu erkennen: Es ist. Oder genauer:
Du befindest dich darin.«
ANTOINE DE SAINT-EXUPERY, Die Stadt in der Wüste
Er stand direkt vor mir. Sein Blick war ein eiskalter Griff um mein Herz.
»Das Blut einer Spiegelseele verleiht ihr die Macht, die Kräfte jedes Gegners zu reflektieren. Beherrscht ein Spiegelblut diese Fähigkeit, ist es fast unbesiegbar, denn es ist immer so stark wie sein Gegenüber.«
Meine Augen wurden groß. Hoffnung schlich sich in mich, nein, bäumte sich auf wie ein störrisches Pferd. Sollte er wider Erwarten herausfinden, dass ich ein Spiegelblut war, würde ich lernen können, mich zur Wehr zu setzen. Diese Fähigkeit gefiel mir. Langsam stand ich wieder auf.
»Ein Dämon, der dein Blut trinkt, bekommt diese Macht ebenfalls für eine gewisse Zeitspanne verliehen.«
Es dauerte mehrere Sekunden, bis ich den Inhalt seiner Worte verstanden und in vollem Ausmaß erfasst hatte. Ich musste mich an der Stuhllehne neben mir abstützen, um nicht umzukippen. Was hielt Damontez davon ab, sofort mein Blut zu kosten, um herauszufinden, ob ich eine Spiegelseele war? Er hatte keinen Grund zu warten.
»Deswegen gilt das Blut einer Spiegelseele als Aliquid Sanctum, etwas Heiliges«, fuhr er ungerührt fort.
Kjell hatte das gesagt: Aliquid Sanctum. Meine Knöchel leuchteten weiß wie Kreide, so fest hatte ich den Stuhl gepackt.
»Dein Blut wäre eine heilige Sünde. Es ist nicht nur verlockender als alles, was wir kennen, es ist auch mächtiger. Eine Macht, die älter ist als alles, was jemals war. Alle Vampire, die nach diesem Blut suchen, und glaub mir, es gibt nicht einen, der verrückt genug wäre, es nicht zu begehren, würden dich jagen.«
Ich biss mir auf die zitternde Unterlippe. Er sprach all diese Dinge so unbeteiligt aus, als wären es nur Stichpunkte, die er abhaken musste. Was das für mich wirklich bedeutete, schien ihm völlig gleichgültig.
»Vor allem die Seelenlosen, die nicht mehr lieben können, begehren dieses Blut besonders. Es ist für sie, als würden sie die Liebe pur trinken. Sie erinnern sich dadurch an alte Zeiten, in denen sie noch lieben konnten.«
Ich hob den Kopf ohne Erlaubnis. »Ich bin keine …«
»Ich habe dich nicht aufgefordert zu sprechen!«, herrschte er mich an.
»Aber ich …«
»Still!« Seine Hand schnitt durch die Luft, in der nächsten Sekunde dachte ich, die Worte würden in meinen Brustkorb zurückgedrängt. Ich konnte kaum atmen und wusste nicht, ob es die Angst davor war, geschlagen zu werden, oder ob es sich um eine seiner Fähigkeiten handelte.
»Du wartest, bis du sprechen darfst. Und wenn du mir noch einmal ins Wort fällst, ist das vielleicht erst morgen.«
Er fixierte mich. Meine Lungen weiteten sich ein bisschen, und ich atmete vorsichtig ein, nahm den Kopf nach unten. Das war tausendmal schlimmer als Elois Prügel. Das Schweigenmüssen erschöpfte mich körperlich. Es kam mir vor wie ein Wettlauf gegen eine nicht zu bezwingende Macht, die immer einen Vorsprung hatte. Ich konnte dabei nicht gewinnen, und es war trotzdem so anstrengend. Mein Herz raste, Tränen der Hilflosigkeit standen in meinen Augen, aber ich drängte sie zurück. Vor ihm würde ich bestimmt kein zweites Mal weinen.
»Diese Kraft braucht sehr lange, um sich zu entfalten. Es kann Monate oder Jahre dauern. Je stärker deine Kraft wird, desto stärker wird der Lockruf deines Blutes. Im Moment wäre dein Blut noch kein echter Beweis.« Er machte eine kurze Pause, gab mir Zeit, seine Worte zu verarbeiten, dann fügte er an: »Du darfst jetzt sprechen und den Blick heben, bis ich etwas anderes von dir fordere.«
Ich sank zitternd auf einem der Stühle zusammen. »Ich habe keine Kräfte, du kannst mich also gehen lassen.« Wenigstens war mein Blut noch vor ihm sicher, zumindest konnte er es nicht als Beweismittel gegen mich verwenden. Die lange Nacht setzte mir zu, vielleicht träumte ich das alles
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