Spiegelblut
mitzunehmen.
Die Decke vielleicht, aber Pontus ’ Pullover kriegst du nicht!
Natürlich bekam er ihn … und mein iPad, meine Tasche und meine Uhr und zuletzt noch die Matratze, an der angeblich auch Blut klebte. Nur mich ließ er zurück. Allein in der Kälte mit einer halb leeren Wasserflasche und einem großen Fragezeichen im Kopf.
12. Kapitel
»An den, den man liebt,
verliert man einen Teil seiner Freiheit.«
HENRY DE MONTHERLAND
Es ist erstaunlich, wie langsam die Zeit vergehen kann, wenn man allein ist. Vielleicht raste sie auch, ich hatte keine Uhr mehr, die es mir sagen konnte. Was Eloi wohl gerade machte? Hockte er in irgendeinem bescheuerten Stuhlkreis in einer der ihm so verhassten Therapiegruppen und versuchte, fremden Leuten zu erklären, warum er an der Flasche hing?
Hey, Eloi, spür doch mal in dich hinein! Diese schreckliche Kindheit, die du nie hattest, was macht die mit dir? Oder bist du beim Alkohol hängen geblieben, weil dich die Dämonen in den Wahnsinn getrieben haben? Hast du gewusst, dass Papa das Medaillon besaß? Weißt du, was ein Spiegelblut ist? Eloi, du sollst antworten, ich habe dich was gefragt! Antworte!
Was macht sie mit mir? Diese Stille?
Nichts, mir geht ’ s prima, ich führe nur Selbstgespräche!
Hey, Eloi, du bist ja so still. Kannst du nicht mehr sprechen? Schön, dann geht es dir wie mir, ich habe nämlich niemanden mehr, der mit mir spricht, und ich säße jetzt wirklich gerne auf deinem warmen Stuhlkreisplatz. Keine Sorge, ich werde nicht verrückt, aber nichts geht über ein bisschen Zynismus, wenn man in der Obhut eines Vampirs ist!
Mir ist kalt, ich habe Hunger, ich bin müde, ich habe Angst, alles tut mir weh … Wie lange lässt er mich hier allein?
Wo war das letzte Spiegelblut?
Ich möchte nicht sein Nachtschattenherz sein. Was ist eine Seele?
War sie durchsichtig und durchlässig wie Nebel? Konnte man sie fassen und wenn ja, mit was – und wie? Ich rollte mich auf dem kalten Boden zusammen, zog die Knie weit zu meinem Brustkorb hoch. Vielleicht würde ich erfrieren. Erfrieren ist ein schöner Tod, hatte ich einmal gehört, man schläft einfach ein und wacht nicht wieder auf, vorher würde man sogar anfangen zu schwitzen oder zumindest sich einbilden, einem sei heiß.
Ich starrte auf die trostlose Mauerwand, dachte dabei an Frankreich, die Lavendelfelder, das blaue Gold der Provence. Elois Stimme hatte immer so sehnsüchtig geklungen, wenn er von Olivenhainen und den feuerroten Mohnblumen sprach, dem Wind, der das Parfüm des Lavendels in die engen Gebirgstäler wehte. Ich hatte keine Erinnerung mehr an Frankreich; als wir nach Schottland kamen, war ich erst drei Jahre alt gewesen. Geblieben waren mir nur die Sprache und Elois bunte Erzählungen.
Meine Arme und Beine taten kaum noch weh, sie waren taub vor Kälte. Ich drehte mich auf den Rücken, wiegte mich ein bisschen hin und her und blickte nach oben. Damals war mir auch so entsetzlich kalt gewesen.
»Ich hab dir doch gesagt, ich will nicht.«
»Bitte, Finan. Komm schon!«
Die runde Decke über mir sah aus wie ein Tunnel, ein Tunnel, der mich hier herausführte an einen Ort, an dem Finan noch lebte. Ich sah uns beide an seinem letzten Tag.
Ich nehme ihn an der Hand, als er endlich nachgibt, zahle den Eintritt für uns beide, und wir schlängeln uns durch den engen Eingangsbereich. Ich muss ihn loslassen, und er läuft hinter mir her, einen Zipfel meines T-Shirts in den Fingern. Seinen Blindenstock hat er draußen bei Eloi gelassen. Als wir eintreten, bin ich zuerst geblendet, doch nach wenigen Sekunden ist meine Sicht klar. Überall sind Spiegel. Ich kann meine Begeisterung kaum bremsen, wann und wie ich Finan verliere, weiß ich nicht mehr. Lachend irre ich durch die Gaukelei einer monumentalen Welt, virtuelle Fluchten hinter Glas, das gleichzeitig Grenze ist. Lampen von der Decke streuen Licht wie in einem Kaleidoskop auf alle Spiegelflächen, und ich komme mir vor wie in einem Märchen. Immer wieder berühre ich die Scheiben, sehe mich fünffach, sechsfach gespiegelt. Ich überhole ein junges Liebespaar und einen älteren Mann, der mir seltsam hinterher blickt. Ich sehe es im Spiegel und sein Blick verfolgt mich tausendfach. Plötzlich bekomme ich Angst. Er trägt etwas in der Hand, ich kann es nicht genau erkennen, aber es glitzert wie eine Klinge.
»Finan? Wo bist du?« Meine Freude über das gläserne Labyrinth verflüchtigt sich von Minute zu Minute, in der ich ihn nicht finde. Der
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