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Spiegelblut

Spiegelblut

Titel: Spiegelblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uta Maier
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Grundriss sah von außen nicht groß aus, doch innen erscheint der Irrgarten unüberschaubar. »Finan?« Ich laufe kopflos zurück, aber ich finde den Weg nicht mehr. »Fin-an!«
    Er antwortet nicht. Ich komme wieder an dem Pärchen vorbei, der Ältere ist verschwunden. Eine Reihe Spiegel später stoße ich mit einem jungen Mann zusammen. Ich murmele eine hastige Entschuldigung und blicke zu ihm auf. Seine Augen leuchten rot wie Blut und bilden einen irren Kontrast zu seinem kalkweißen Gesicht und dem gelbstichigen Haar. Meine Kehle schnürt sich zu vor Angst, als ich entdecke, dass er im Spiegel nicht zu sehen ist. In keinem der Spiegel! Meine Beine geben fast unter mir nach.
    »FINAN!« Ich fange an zu schreien. Von irgendwo weiter vorne dringt ein grauenhaftes Scheppern durch das Labyrinth, dann stürzen die Spiegel wie ein Kartenhaus ineinander. Glas splittert in einer gewaltigen Fontäne an die Decke, im Kristallregen sehe ich diamantenes Licht funkeln.
    Eine einzige Reihe Spiegel bleibt stehen. Urplötzlich ist es totenstill – bis auf den Gesang, der in den leeren Spiegelkorridoren aufsteigt. Er klingt schauerlich und ist gleichzeitig wunderschön. Als wäre er nur für mich bestimmt, kriecht er über den Boden auf mich zu wie Nebel. Durch die Ritze der Spiegelscheibe neben mir schwappt Blut. So viel Blut. Und es singt mir direkt in die Seele.
    Spiegelblut. Finans Spiegelblut. Und als er damals starb, übertrug sich seine Kraft irgendwie auf mich. So musste es gewesen sein.
    Finan stirbt keine zwei Meter entfernt von mir auf der anderen Seite des Spiegels. Ein Dolch langer Glassplitter verursacht die tödliche Wunde in der Brust, alle anderen Verletzungen hätte er überlebt.
    Ich liege in seinem singenden Blut, in einem Gesang, den keiner außer mir später gehört haben will, und spüre eine Bewegung über mir. Der kalkweiße Mann beugt sich über mich, ich reiße angstvoll die Augen auf, ansonsten bin ich wie gelähmt. Er leckt das Blut neben mir vom Boden, ich höre keinen Atem. Vor Furcht kann ich nicht aufstehen und zu Finan laufen. Vielleicht hätte ich ihn sonst noch einmal lebend gesehen. Ich hasse meine Angst. Damals wie heute.
    »Es ist wieder Frühling«, flüstert der Mann mir ins Ohr, während Finan auf der anderen Seite stirbt. »Ein Strauß Blumen, der Geruch von Honig und Hyazinthen – und ich spüre den warmen Regen auf meiner Haut, als wäre es erst gestern gewesen.« In seiner Stimme klingt so etwas wie Andacht mit. Mir wird eiskalt. »Ich hatte es fast vergessen …« Dann ist er so plötzlich verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst.
    Mit angststarren Augen sehe ich mich an, zum letzten Mal bis heute. Ein elfjähriges Mädchen mit lilablauen Augen und dunklem Haar, das die Welt hinter den Spiegeln ebenso wenig versteht wie die Welt davor.
    Ich verlor das Gefühl für Zeit und Raum, und am Ende auch das für mich selbst. Mitunter wurde ich von der Angst gepackt, mich aufzulösen und mit der Luft zu Nichts zu verschmelzen, ohne dass es jemand merkte. Manchmal schlug mein Herz so laut, dass ich glaubte, Pferde galoppieren zu hören. Ich hielt mein Ohr an die Wand, aber da war es auch schon wieder still.
    Als Shanny und Myra plötzlich vor mir standen, dachte ich erst, ich würde halluzinieren. Für eine mächtige Trägerin des Zeitsiegels war Myra erstaunlich klein und pausbäckig. Ihr grün gefärbtes Haar war an der einen Seite abrasiert, auf der anderen fiel es bis zur Schulter. Das Zeichen des Äonen-Engels Eth zeigte sich als gelber Kreis in feinen Ansätzen. Sie versorgten mich mit Pizza, einer warmen Decke und taten äußerst geheimnisvoll. Shanny verriet mir dann, dass sie eine Lichtträgerin der Illusion war. Sie hatte für Damontez ein paar Unannehmlichkeiten arrangiert, nichts Ernstes, aber doch so lästig, dass er derzeit nicht nach mir sehen würde. Sie lächelte, als sie das sagte, und ihr Gesicht fing dabei an, von innen zu leuchten wie eine Grabkerze.
    »Fallt ihr mit euren Siegeln nicht überall auf?«, fragte ich sie und deutete nacheinander auf ihre Symbole. Bei Eloi hatte ich immer geglaubt, es wäre ein Tattoo, das er sich in jungen Jahren in einem Vollrausch hatte stechen lassen.
    Myra grinste. »In einem Zeitalter, in dem sich Menschen Stacheln unter die Haut pflanzen oder fünf Zentimeter große Tunnel-Piercings in den Ohrläppchen tragen? No way!« Sie musterte mich lange. »Wir erscheinen dir vielleicht ein bisschen abgedreht, aber wir sind insgesamt

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