Spiegelblut
Ja, das war ich. Ich würde den Abend ohne Fehl und Tadel überstehen und das mustergültigste Nachtschattenherz aller Zeiten sein. Und trotzdem würde es mir gelingen, Leslie Shannys Botschaft zu übermitteln.
18. Kapitel
»Es gibt keine gefährlichere Waffe als den Willen,
selbst das schärfste Schwert kommt ihm nicht gleich.«
DSCHUANG DIS
Glasgow erschien mir wie eine Stadt aus einem anderen Leben. Bekannte Gebäude blitzten im Licht der Laternen, zogen an mir vorbei, aber blieben schemenhaft und unwirklich, als sähe ich sie durch die Augen eines Fremden. Die Kolonne aus schwarzen Limousinen hatte Faylins Residenz am Rande des Nobelviertels in einer Dreiviertelstunde erreicht. Nach einer strengen Kontrolle am Haupttor fuhren wir in ein Rondell ein, dessen Mitte ein Fontänenbrunnen mit drei Überlaufbecken bildete. Allein das Becken war so groß wie unsere alte Wohnung.
Damontez hatte mir erlaubt, während der Fahrt aus dem Fenster zu sehen – und nur dorthin, denn mir gegenüber saß Pontus. Ich unterdrückte den inneren Zwang, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen, ich konnte froh sein, dass ich den Kopf nicht senken musste. Beim Anblick der zartgelben Stuckfassade des Palasts konnte ich allerdings gar nicht mehr anders, als nach draußen zu starren. Sämtliche Strömungen der abendländischen Architektur, von Versailles bis hin zu den Sakralbauten Italiens, vereinten sich in diesem Schloss. Es erstreckte sich u-förmig um den Innenhof und wurde von allen Seiten scharf bewacht.
»Der Bau ist sicher nicht das, was du aus Schottland kennst«, erklärte Damontez mir jetzt. »Faylin hat sich dieses Palais, wie er es nennt, über die Dauer einer einzigen Generation bauen lassen. Einer menschlichen Generation wohlgemerkt. Er hat sich die renommiertesten Künstler dafür ausgewählt.«
»Wahnsinn«, entwich es mir einfach. Schnell schlug ich die Hand vor den Mund. Damontez wusste, wie aufgeregt ich war, und verlor kein Wort darüber.
»Ja, Wahnsinn«, wiederholte er nur. Aus seinem Mund klang es wie ein Fremdwort.
»Faylin behauptet, der Ballsaal hätte das zweitgrößte Deckenfresko der Welt. Es stellt die Geschichte der Engel und Dämonen dar, von ihren Anfängen bis hin zu der heutigen Zeit. Bedauerlicherweise wirst du es dir nicht betrachten können.«
Ja, wirklich bedauerlich! Ich liebte Wand- und insbesondere Deckenmalereien. Aber mehr als den Fußboden und die neuste Schuhkollektion würde ich heute nicht zu sehen bekommen.
Der Wagen kam zum Stillstand. Ich raffte mein bodenlanges Kleid nach oben, stieg mit Damontez’ Hilfe aus und blieb hinter ihm stehen. Die kalte Nachtluft und die Angst, die ich während der Fahrt erfolgreich verdrängt hatte, ließen mich frösteln. Damontez wartete, bis sich alle Lichtträger und Vampire um uns versammelt hatten, erst dann betrat er den überdachten Weg zum Schlosseingang. Es musste ein imposantes Bild sein: Bis auf die wenigen Vampirinnen trugen sie alle schlichte, nachtblaue Kleidung und die Vampire darüber die schwarzen Roben der Lamiis Angelus. Am Saum und in Höhe der Hüfte war der feine Stoff mit silbernen Zeichen bestickt, die ein bisschen aussahen wie Siegel.
Eine Allee aus feindlichen Lichtträgern fasste den breiten Weg zum Schloss ein wie eine Gartenhecke. Die Enden ihrer auf den Boden gestützten Diamantsonnen erinnerten mich an die bevorstehende Gefahr. Ich atmete einmal kräftig durch, dann betrat ich hinter Damontez die Eingangshalle.
Die Bösartigkeit, die mir im Inneren entgegen strömte, zwang mich beinah in die Knie. Ich war auf die aufwühlende Wirkung, die diese geballte Seelenlosigkeit auf mich ausübte, nicht vorbereitet. Ich krallte die Hände in mein Kleid und schluckte trocken. Der Halsreif saß so eng, dass meine Kehle schmerzte. Mindestens zwanzig Nefarius standen Spalier und der Gang hindurch fühlte sich an wie ein Spießrutenlauf. Mittendrin blieben wir auch noch stehen.
Floskeln wurden getauscht. Worte auf Latein. Die eisigen Auren griffen wie mit Fingern nach mir. Schlagartig wurde mir klar, dass es diese bitterkalte Ausstrahlung war, die mir den Seelenverlust zeigte. Sie ging weit über die normale Kälte eines Angelus hinaus. Ich konzentrierte mich auf das schwarz-weiße Karomuster des Bodens und begann unwillkürlich, die Kästchen zu zählen.
Eins, zwei, drei, ich habe Angst, vier, fünf sechs, was, wenn etwas schiefgeht, sieben, acht, neun, ich will hier raus, zehn, elf, zwölf, ich bin kein Spiegelblut …
»Keine
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