Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
Vom Netzwerk:
für alle Zeit. Er drehte sich erneut dem dunkelnden Tal zu und hoffte, der Besucher werde bald wieder gehen.
Doch er kam näher, ja, er setzte sich sogar auf die andere Bank. Verstohlen warf Georg ihm einen raschen Blick zu. Der Besucher trug einen langen, schwarzen Mantel, der an diesem warmen Tag sehr unpassend wirkte. Er hüllte den Mann vollständig ein. Er hielt das Gesicht abgewandt, schien angestrengt auf etwas Unsichtbares rechts von ihm zu schauen, so daß Georg nur die langen, schwarzen Haare sah, die den Kopf wie eine Kapuze umgaben. Georg entschied sich, starr geradeaus zu blicken und sich nicht von diesem wunderbaren Platz vertreiben zu lassen.
Der Mond war höher gestiegen, die Wolken verzogen sich, übrig blieb nur der Samt des dunkelblauen Himmels, wie ein zugezogener Theatervorhang. Die Schatten der herannahenden Finsternis wurden von einem blassen, ungewissen Silber durchsetzt, das den fernen Bäumen, den Mauern der Niederburg und den alten Quadersteinen der Wehranlagen ein holzschnittartiges, unwirkliches Aussehen verlieh. Eine Fledermaus torkelte durch die Luft und verschwand hinter der Burgmauer, wie von einem unsichtbaren Blitz getroffen.
Neben Georg wisperte es. Der Fremde schien sich zu regen, und obwohl Georg nicht hinschaute, wußte er, daß sich der Mann in dem schwarzen Mantel nun ihm zugewendet hatte.
„Ein wunderschöner Abend, nicht wahr?“, sagte eine Stimme rechts von ihm. Georg schloß die Augen. Die Stimme war tief, melodisch, beinahe wie das sanfte Raunen des Windes in den Blättern. Er wollte den Sprecher nicht ansehen. „Ja“, sagte er nur leise. Er wünschte sich, der andere Mann würde aufstehen und ihn weiter die Ruhe und den Frieden genießen lassen.
„Von woher kommen Sie?“, fragte der Fremde. Nun sah Georg ihn doch an. Der Mann hatte das rechte Bein über das linke geschlagen, und ein klobiger, grauer Wanderschuh baumelte in der Luft und erinnerte entfernt an den Huf eines gewaltigen Stieres. Der dunkle Mantel schimmerte im stärker werdenden Licht des Mondes, und die Züge des Mannes waren wie aus geschmolzenem Silber gegossen. Doch sie waren unerwartet sanft und freundlich. Die Augen glänzten in dem abendlichen Licht, und um ihre Ränder zogen sich unzählige Fältchen. Die Nase des Mannes war ein wenig platt und am Ende nach oben gebogen, so daß sie Georg an die eines Ebers erinnerte. Doch das war das einzige unangenehme Merkmal dieses friedlichen, freundlichen Gesichts. Georg mußte lächeln – über sich selbst, über sein Unbehagen, über die dunklen Gedanken, die ihn angesichts des Fremden zuerst befallen hatten.
„Ich bin auf einer Wanderung“, sagte Georg ausweichend, denn obwohl ihm der Fremde längst nicht mehr so unheimlich war wie zuvor, widerstrebte es ihm doch, etwas von sich preiszugeben.
„Auf einer Wanderung – wie ich“, erwiderte der Mann. „Ich bin heute morgen von Wittlich aufgebrochen und über den Lieserpfad hergekommen.“
„Ein schöner Weg“, meinte Georg in dem Bestreben, höflich zu dem Fremden zu sein. In Wahrheit kannte er den Weg gar nicht.
„Wunderschön“, pflichtete ihm der Fremde bei und breitete die langen Arme auf der Rückenlehne aus. „Das hier ist ein herrliches Fleckchen Erde. Wo haben Sie eine Unterkunft gefunden? Hier in Manderscheid?“
Darauf wollte Georg keinesfalls antworten. Ihm wurde wieder unbehaglich zumute. Er hatte schon zu viele Schreckensgeschichten über verwirrte oder skrupellose Verbrecher gehört, die sich die Einsamkeit und Ahnungslosigkeit harmloser Wanderer zunutze machten und sie ausraubten und ermordeten. Schweigend blickte Georg den Mann an. In dessen dunklen, den Silberglanz des Mondes spiegelnden Augen lachte es.
„Sie sind ein unsicherer Mensch“, sagte der Mann und richtete den Blick geradeaus, über die alte Wehrmauer, in eine fremde Ferne hinter den Bergen.
Georg fühlte sich ertappt. Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß. „Ich ... ich habe noch kein Zimmer“, sagte er nur, um nicht als Feigling dazustehen.
„Das ist nicht gut“, meinte der Fremde und schaute weiterhin geradeaus. „Es sind viele Gäste hier – viele Wanderer. Sie sollten sich um ein Quartier kümmern, wenn Sie nicht in die Verlegenheit geraten möchten, in dieser Ruine Ihr Nachtlager aufschlagen zu müssen.“
„Das würde mir nichts ausmachen, so lange es trocken bleibt. Warm genug ist es ja“, antwortete Georg mit fester Stimme.
„Vielleicht sind Sie doch mutiger, als ich geglaubt habe“,

Weitere Kostenlose Bücher