Spiegelglas
immer weh tun. Immer. Ich scheine doch zu existieren, oder?“ Das Wesen lachte meckernd. „Man hat mich geschickt, um dich abzuholen.“
Georg versuchte sich aus dem schraubstockartigen Griff der ungeheuerlichen Kreatur zu befreien, doch er konnte seine Arme nicht mehr bewegen.
„Wir gehen auf eine Reise – du und ich“, hauchte das Ding. „Ich bringe dich dorthin, wo du hingehörst.“ Da begriff Georg endlich, welche Verzweiflungstat er vorhin auf dem Bergfried begangen hatte. Er erinnerte sich an den Aufprall im Gras, das seinen zuckenden Körper noch einen Augenblick liebkost hatte, bevor das Leben aus ihm sickerte. Nicht dieses grauenerregende Wesen, das ihn gepackt hielt, war das Gespenst, sondern er selbst. Das Ding erhob sich mit seiner Beute in die Luft, die von Höllenstürmen gepeitscht wurde.
Ende
Die Versuchung
Lily Kleber freute sich sehr, als ihre Freundin Regula sie zu dieser kleinen Feier einlud. Während sie mit Regula telefonierte, krähte der Balg hinter ihr im Laufställchen. Robin gab kaum einmal Ruhe. Seine Mutter fuhr sich verzweifelt mit dünnen Fingern durch die blonden Haare und wünschte sich, sie könnte den Jungen einfach ausschalten. Abends, wenn sein Vater aus dem Büro kam, war er so lieb und anschmiegsam wie eine Hauskatze, aber tagsüber war er ein reiner Teufel. Manchmal glaubte Lily, dass ihr kleiner Herzschatz sie einfach nur zur Verzweiflung oder in den Selbstmord treiben wollte. Was Dennis wohl sagen würde, wenn er seinen wohlverdienten Feierabend damit verbringen musste, Lilys Reste vom Straßenpflaster abzukratzen und danach der Polizei Rede und Antwort zu stehen? Irgendwie gefiel Lily dieser Gedanke. „Ja, ich komme gern“, brüllte sie ins Telefon, um den Lärm ihres Sonnenscheinchens zu übertönen.
„Wie schön“, knarrte es aus dem Hörer. „Es werden noch ein paar Freundinnen von mir da sein, die du nicht kennst. Du brauchst unbedingt Abwechslung. Bring ein paar von deinen Käsehäppchen mit. Ich freue mich auf dich!“ Es knackte in der Leitung. Sie war tot. Gestorben.
Robin hingegen erhöhte seine Lautstärke noch ein wenig und schlug mit der flachen Hand gegen das Gitter seines Laufställchens, das wie ein bockiges Pferd hin und her schwang. Lily nahm ihn auf den Arm und versuchte ihn zu beruhigen. Robin ließ es eine ganze Minute lang geschehen und kuschelte sich an seine Mutter. Doch dann kreischte doppelt so laut weiter. Sie gab es auf.
Es war nicht leicht gewesen, ihren geliebten Gemahl davon zu überzeugen, dass es für ihr eigenes Wohlbefinden und damit für das Wohlbefinden der ganzen kleinen Familie unerläßlich war, zu dieser Party zu gehen. Wie Lily vorhergesehen hatte, verursachte die Nachricht bei Dennis heruntergezogene Mundwinkel und eine gerunzelte Stirn, während er sich die Zeitung schnappte und Anlauf auf den Lesesessel nahm. „Muss das sein?“ brummte er und schlug gleichzeitig die Politikseite auf. „Morgen schon? Was sollen wir beide denn essen?“ Er warf Robin, der still wie eine Puppe in einem der Sessel saß und mit einem Papierschnipsel spielte, einen zärtlichen Blick zu.
Schließlich einigten sie sich, dass Lily ihnen etwas in die Mikrowelle stellen würde.
Robins Gekreisch war am nächsten Tag viel leichter zu ertragen gewesen. Lily hatte ihre Käsehäppchen zubereitet, dabei im Fernsehen eine Daily Soap geschaut und leise vor sich hergesungen, was den kleinen Balg nur noch schreifreudiger zu machen schien. Es war ihr egal.
Sie hatte die Wohnung verlassen, bevor Dennis nach Hause kam.
Es war nicht weit bis zu Regula, ihrer besten Freundin, die sie vier oder fünf Mal im Jahr sah. Sie wohnte im selben Viertel, etwa zwanzig Minuten Fußweg entfernt, in einem wunderschönen alten Haus. Und nun saß Lily inmitten einer angeregt sich unterhaltenden Frauenschar, hielt ein Glas Prosecco in der Hand und fühlte sich großartig. Kein Kindergeschrei, keine Nörgeleien. Und ihre Käsehäppchen waren rasch vertilgt und hoch gelobt worden. Die Gespräche drehten sich um Männer, um Kinder, um Kleidung, Politik und Kunst. Dann schellte es an der Tür. Regula sprang auf, sagte mit einem Augenzwinkern: „Das ist sie“, und eilte hinaus.
Sie war es.
Sie war groß, mindestens einen Meter fünfundachtzig, hatte eine wilde Frisur aus feuerrotem Haar, war stark geschminkt und ein wenig knochig. Ein
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