Spiegelglas
sagte der Fremde und sah Georg wieder an. Er öffnete den Mund und zeigte eine Reihe hartweißer Zähne, die seltsam künstlich aussahen.
„Warum?“, fragte Georg nach einer Weile, während der er den Mann schweigend angeschaut und den vielfältigen Geräuschen der Nacht gelauscht hatte: dem Zirpen der Grillen, dem unendlich leisen Schwirren nächtiger Schwingen, dem Rascheln von Mäusen im Laub des Vorjahres, das in einer Ecke des Burghofes lag. Wie eine Glocke hatte sich der Mondschein über diese kleine Welt gestülpt.
„Manche Leute aus dem Ort behaupten, hier oben spuke es“, erklärte der Mann.
„Ammenmärchen“, sagte Georg heftig.
„Das sage ich auch immer“, erwiderte der Mann und nahm die Arme von der Lehne. Georg erkannte, daß sie ungeheuer dürr waren; die Ärmel seines leichten, schwarzen Mantels umflatterten sie wie Fledermausflügel. Der Mann schien Georgs prüfenden Blick bemerkt zu haben und ihn auf seinen sonderbaren Mantel zu beziehen. „Als ich heute morgen losging, sah es nach Regen aus“, erklärte er. „Ich hasse es, mit Gepäck oder gar mit einem Schirm zu wandern, also habe ich mir mein Cape genommen. Es hat sogar eine Kapuze.“ Er griff mit seinen dünnen Armen nach hinten. Dabei rutschte der Stoff herunter und enthüllte die eng anliegenden Ärmel eines fleischfarbenen Pullovers, in denen kaum mehr als zwei dürre Zweige zu stecken schienen. Mit spinnenhaften Fingern griff er nach dem Saum der Kapuze und zog sie sich über den Kopf. Zuerst schien sie keinen Unterschied zu den langen, schwarzen Haaren zu machen, doch als der Mann Georg wieder den Kopf zuwandte, befand sich anstelle seines Gesichts nur noch ein Loch. „So bin ich gut geschützt“, drang die hohl gewordene Stimme aus diesem Loch hervor.
Georg überlegte angestrengt, wie er sich des Mannes entledigen konnte. Er gefiel ihm nicht. Der Fremde schien keine bösen Absichten zu hegen, doch konnte man sich da ganz sicher sein? Georg wollte sich nicht unterhalten, er wollte mit sich allein sein.
„Wandern Sie ganz allein?“, fragte da der Mann.
„Ja.“
„Das kann gefährlich sein.“
„Wie meinen Sie das?“
Der blaue Himmelssamt war durch einen schwarzen ausgetauscht worden, das Mondlicht hatte alle Farben aus der Welt gewaschen; die Niederburg lag wie ausgeblutet in Grau und Silber und Schwarz dort unten, wie eine unerlöste, leise im Schlaf weinende Seele.
„Man kann sich den Fuß brechen, wenn man auf den schmalen Wegen mit dem hinterhältigen Wurzelwerk nicht aufpaßt.“
„Ach so.“
„Ein falscher Tritt, und man kullert den Hang hinunter in die Lieser“, fuhr der Mann mit dem verschwundenen Gesicht fort.
Wollte er Georg angst machen? Wollte er ihn von diesem wunderbaren Ort vertreiben? Wollte er genau dasselbe, was Georg wollte: allein hier sein? Das sollte ihm nicht gelingen! Georg verzog das Gesicht zu einem grimmigen, entschlossenen Grinsen.
„Sie lächeln, aber glauben Sie mir, es gibt keinen Grund zu lächeln“, meinte der Mann, dessen Stimme immer hohler klang. Er legte die Arme wieder auf die Rückenlehne und schaute geradeaus, so daß die Kapuze seine Wangen verdeckte. Er sah aus wie ein Mönch.
Georg faßte einen schweren Entschluß. Er stand auf. „Ich muß gehen“, sagte er. „Sonst bekomme ich wirklich kein Zimmer mehr.“
Er hörte ein Kichern aus dem schwarzen Stoff neben sich dringen. „Dann bleiben Sie halt hier – bei mir.“
Diese Vorstellung war Georg mehr als zuwider. Er ging einige Schritte auf die Burgmauer zu und drehte sich um. Der Mann hatte den Kopf gesenkt, so daß sein Gesicht ganz im Schatten der Kapuze lag. „Ich kann mir vorstellen, daß das Alleinsein Ihnen nicht gut bekommt.“
„Was geht Sie das an?“, sagte Georg barsch. „Ich bin allein, weil ich allein sein will.“
Der Mann in dem Umhang zuckte kurz die Schultern. „Es war nicht meine Absicht, Ihnen zu nahe zu treten. Die meisten Leute wollen vor etwas weglaufen, wenn sie die Einsamkeit wählen, aber sie begreifen nicht, daß sie nicht weglaufen können.“
Georg seufzte, wandte sich um und stützte sich mit feuchten Fingern auf der Burgmauer ab. Das Tal unter ihm war ein verschwommener Traum, gemalt in den matten Farben der Nacht. Die Worte des Fremden hatten ihn bis in die Seele getroffen. Weglaufen ... Er war weggelaufen. War von seinem Zuhause weggelaufen, in dem die Erinnerungen unerträglich geworden waren. Hatte diese harte, ermüdende Wanderung gemacht, hatte die Bilder aus seinem Kopf treiben
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