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Spiegelglas

Spiegelglas

Titel: Spiegelglas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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wollen – seine Frau, vom Krebs zerfressen, auf dem Sterbebett im Krankenhaus, unzählige Schläuche, die sie durchdrangen, das Ende, dann die Flucht hierher, wo sie oft zusammen Urlaub gemacht hatten ... Der Fremde hatte recht: Man konnte nicht weglaufen. Auch wenn man es anfangs glaubte, weil man der Meinung war, einen sicheren Weg gefunden zu haben.
Georg ging einige Schritte nach links an der Mauer entlang, weg von dem Mann. Er hörte dessen Stimme, ein wenig leiser und ferner nun:
„Wir alle sind in unserem Dasein gefangen. Und für manche wird es irgendwann unerträglich. Dann müssen wir eine Entscheidung treffen. Manchmal ist es die falsche.“
Georg blieb stehen und drehte sich langsam um. Mit Erleichterung sah er, daß er eine gewisse Entfernung zwischen sich und den Mann gebracht hatte. In seinem schwarzen Umhang und mit den ausgebreiteten Armen sah er aus wie ein riesiger Vogel. Nun kam Wind auf und zerrte an dem Stoff. Es war, als wolle sich der Vogel in die Luft erheben. Georg sagte: „Leben Sie wohl“, und ging einen Schritt rückwärts, ohne indes den Blick von der bizarren Gestalt zu wenden.
„Nein“, sagte diese.
Georg blieb stehen. Das Wort schien ihn an den Boden zu nageln. „Was wollen Sie von mir?“, fragte Georg und spürte, wie seine Hände zu zittern begannen. „Wer sind Sie?“
„Jemand, der auch sehr einsam ist. Jemand, der auch eine Dummheit begangen hat“, lautete die Antwort. Sie war kaum mehr als ein Flüstern im stärker werdenden Wind, doch Georg verstand jedes Wort so deutlich, als wäre es ihm geradewegs ins Ohr gesprochen worden. „Diese alten Gemäuer sind mit Geschichten und Schicksalen vollgestopft. Die Steine können reden. Man muß ihnen nur zuhören. Es sind Geschichten von Liebe und Tod.“
Der Wind zupfte an Georgs grünem Anorak, drang aber nicht durch. Dieser Mann war verwirrt, das stand nun für ihn fest. Und Verwirrte waren manchmal gefährlich. Auch wenn der dunkle Mann nicht sehr kräftig zu sein schien, wollte Georg es doch nicht auf ein Handgemenge ankommen lassen, denn auch er war nicht sonderlich stark und sportlich. Er verzog den Mund und schielte nach dem Torbogen, zu dem der steile Weg vom grasbewachsenen Burghof hinunterführte.
Es sah aus, als wolle sich der Mann von seiner Bank in die Luft erheben, so sehr bauschte der Wind seinen Mantel auf. „Ich lausche diesen Steinen schon so lange“, sagte er. „Ich komme immer wieder her. Ich muß immer wieder herkommen. Mir ging es damals ähnlich wie Ihnen heute.“
Georg hatte den Eindruck, als wolle sich der Mann in der nächsten Sekunde auf ihn stürzen, so sehr flatterte und schwirrte sein Gewand. Georg konnte sich nicht rühren, war wie gebannt.
„Glauben Sie an Gespenster?“, fragte die Stimme aus dem Aufruhr der Stoffmassen, die immer umfangreicher zu werden schienen und die Umrisse der dürren Gestalt nicht einmal mehr erahnen ließen.
Georg schüttelte mechanisch den Kopf.
Der Mann stand auf. Sein Mantel trieb noch immer um ihn her, und ein gewaltiger Windstoß fegte ihm die Kapuze vom Kopf.
Georg keuchte auf. Das war nicht mehr das Gesicht, das er noch vorhin in der Dämmerung gesehen hatte. Jetzt, vor dem Hintergrund der tiefen Nacht und beschienen von einem Strahl des unbarmherzigen Mondes, um den sich wieder Scharen von Wolken gesammelt hatten, glotzten ihn starre, höllenfeurige Augen an, die wie Kohlen in den Tiefen eines pergamentenen Schädels lagen. Das schwarze, lange Haar war zu silbernen Spinnweben geworden, die fleischlosen Lippen waren grinsend gebleckt und enthüllten schwarze Zahnstummel, die Lachfältchen um die Augen waren zu abscheulich tiefen Furchen geworden, und die Hände, mit denen das Wesen nun nach Georg griff, waren nichts als skelettartige Stecken. Und doch war da noch eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Gesicht des Mannes, der Georg vorhin in der Dämmerung angesprochen hatte. Das Ding sprach wieder. Diesmal klang es wie aus einem tiefen Brunnen.
„Du solltest aber an Gespenster glauben. Du solltest der Wahrheit ins Auge schauen.“ Das Ding lachte meckernd.
Georg taumelte einige Schritte zurück und hielt die Hände abwehrend vor sich gestreckt. „Ich ... glaube ... nicht ... du existierst nicht!“
Wie der Wind hatte das Ding ihn nun erreicht. Ein Gestank wie aus Höllenpfühlen drang Georg in die Nase, als es seine Handgelenke packte. Brennender Schmerz durchzuckte ihn. Das Ding verzerrte die Lippen in höhnischem Triumph. „Es tut weh, nicht wahr? Es wird

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