Spiegelglas
Choriander aus dem zweiten Stock begegnet war. Sie hatte gerade den Briefkasten zugesperrt, und da hatte er plötzlich hinter ihr gestanden. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Und er hatte sie angesehen. Sie hatte deutlich gespürt, wie er ihr die Kraft aussaugte. Hatte sich kaum noch in ihre Wohnung flüchten können. Hatte viele Tage gebraucht, bis sie wieder zu sich gekommen und ein wenig stärker geworden war.
Herr Choriander hatte sie danach nie wieder belästigt.
Doch der Gedanke an ihn suchte Miriam immer noch heim, wenn sie nachts ins Treppenhaus ging. Sie zog den Kragen ihres knöchellangen Mantels enger um sich und stieg nach oben. Da hörte sie ein lautes Klacken herunterdringen. Es ging ihr durch Mark und Bein.
Eine zuschlagende Tür.
Miriam flog die letzten Stufen hoch. Ja, es war ihre eigene Tür gewesen. Ein Luftzug hatte sie ins Schloss gezogen. Miriam rüttelte an ihr, doch sie gab nicht nach. Und Miriam hatte keinen Wohnungsschlüssel dabei.
Sie versuchte es mit dem lächerlich kleinen Briefkastenschlüssel, doch es hatte natürlich keinen Sinn. Fieberhaft dachte sie nach. Ihre Gedanken schossen wie ein Schwarm Fledermäuse hierhin und dorthin. Ein Schlüsseldienst. Aber dann würde sie einem fremden Menschen – einem Vampir – gegenüberstehen müssen. Lange. Sie würde es nicht ertragen. Er würde sie als leblose, ausgesaugte Hülle zurücklassen. Außerdem hatte sie nicht einmal Geld dabei, um den Schlüsseldienst anzurufen.
Sie hatte in einem Film gesehen, dass man ein Schloss mit einer Kreditkarte öffnen kann, wenn es nicht verriegelt ist. Sie kramte in den Taschen ihres grauen Mantels herum. Sie hatte kein Kreditkarte, auch keinen Kamm, keine Sparkassenkarte, keine Telefonkarte, nichts. Sollte sie irgendwo im Haus schellen? Die Erinnerung an Herrn Choriander war zu schrecklich. Wer konnte schon sagen, wie die anderen Mitbewohner zu ihr sein würden? Na, wie schon? sagte sie sich. Sie würde es nicht überstehen.
Also blieb ihr nichts anderes übrig, als hinauszugehen und nach etwas zu suchen, mit dem sie ihre Tür öffnen konnte.
Hinaus in die Nacht.
Sie schlich zur Haustür, öffnete sie einen Spaltbreit und spähte nach draußen. Alles war still in dieser Vorstadtstraße. Sie wurde mutiger, öffnete die Tür ganz und sicherte sie mit einem kleinen Hebel, damit nicht auch noch sie zufiel. Mit klopfendem Herzen trat Miriam auf die Straße.
Als weit und breit niemand zu sehen war, wurde sie etwas ruhiger. Ihr Atem ging dumpf und rasselte ihr in den Ohren, und das rasende Pochen in ihrer Brust nahm allmählich ab. Sie ging dicht an den Hauswänden vorbei und hielt den Blick starr nach unten gerichtet.
Etwas blitzte im Schein einer Laterne auf. Miriam lief darauf zu. Auf dem Asphalt des Bürgersteigs lag eine Telefonkarte – sicherlich abtelefoniert, aber für ihre Zwecke vermutlich hervorragend geeignet. Mit einem lauten Seufzer bückte Miriam sich und hob die Karte auf. Sie hielt sie kurz zwischen ihren behandschuhten Händen wie eine Oblate gegen die Straßenlaterne und steckte sie ein.
„Hallo, meine Schöne, so spät noch unterwegs?“
Es war eine männliche Stimme. Sie hatte keine Schritte gehört. Bis jetzt nicht. Doch nun waren sie überdeutlich. Scharren wie von Hufen. Teufelshufe. Es waren mindestens drei.
„Können wir dir helfen, meine Schöne? Wir helfen jeder Frau und geben ihr, was sie braucht.“
Die Stimme war schmeichelnd, hell, ohne aber jungenhaft zu sein. Etwas klirrte hinter ihr. Eine Fahrradkette? Ein Stilett? Doch die körperlichen Schmerzen, die sie Miriam antun konnten, waren nichts gegen das Aussaugen. Sie würden sie bluten lassen und zu einem von ihnen machen. Sie hatte nur eine einzige, winzige Chance.
Ganz langsam drehte sie sich um.
Es waren vier. Der Anführer sagte gerade anerkennend: „Hallo.“ Er hatte blondes, schulterlanges Haar, ein zartes Gesicht und blaue Augen, in denen Feuer loderten. Seine drei Kumpane hingegen waren grobschlächtig. Der mit der Fahrradkette trug einen lächerlich fransigen Bart, dem ein gleichmäßiges Sprießen noch nicht gelingen wollte, der mit dem Stilett hatte Gel in den schwarzen Haartollen und Koteletten auf den Wangen bis zum Kinn, und der letzte trug trotz der Nacht eine Sonnenbrille. Seine Jeans war zerschlissen, im Schritt bildete sich ein dunkler Fleck, und durch die Löcher tropfte etwas Gelbliches, wie Miriam mit einer gewissen hämischen Freude feststellen konnte.
Dem Himmel sei Dank, es wirkte.
Der Anführer
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