Spiegelglas
es von draußen herein.
„Ich sehe, dass du mich nicht belogen hast“, sagte der Gelehrte stolz. „Ich halte die Welt in meinen Händen.“
„Du sagst es“, meinte der junge Mann.
„Dann will ich, dass außer mir selbst die gesamte Schöpfung verschwindet“, rief der Gelehrte und hob majestätisch die Hände.
Der junge Mann war fort. Die Studierstube war fort. Die Welt vor dem Fenster war fort. Es gab nichts mehr außer ihm selbst. Und der Gelehrte sagte zu sich selbst: „Nun will ich dich sehen, Gott. Ich will, dass du der Spiegel für meine eigene Göttlichkeit bist.“
Am Morgen fand Theophilus seinen Meister auf dem Boden der Studierstube liegend. Als er den toten Körper umdrehte und in das Gesicht blickte, wurde Theophilus´ Haar weiß. Von jenem Tag an brachte er kein vernünftiges Wort mehr heraus.
Ende
In Stein
Martin irrte durch das große, stumme Haus am Rande des Ortes. Alles sprach von ihr: die Standuhr, die sie gemeinsam in Belgien gekauft hatten und deren Schläge ihm jedes Mal bis in die Seele fuhren, das Bild des verschneiten Beginenhofes in Brügge, das kleine Reliquiar aus Passau, der Spiegel mit dem Jugendstilrahmen, den sie auf einem Flohmarkt in Trier gefunden hatten, und unzählige Dinge mehr – eine Parade der Gestalt gewordenen Vergangenheit. Erinnerungen, die jeden Tag mit Elisabeth wieder gegenwärtig machten.
Fast gegenwärtig.
Vor elf Monaten war Elisabeth im Krankenhaus gestorben. Mit einundvierzig Jahren. An Brustkrebs. Man hatte zunächst Hoffnungen gehabt, aber der Krebs in ihr war regelrecht explodiert. Fünf Monate nach der Diagnose war sie tot gewesen. Und Martin allein.
In den ersten Wochen hatte er kaum gegessen, kaum geschlafen, kaum das Haus verlassen. Inzwischen hatte sich so etwas wie einsame, von Erinnerung bestimmte Routine eingeschlichen. Er war morgens aufgestanden, wann sie beide in ihrem gemeinsamen Leben aufgestanden waren, er hatte zu denselben Zeiten gegessen, wann sie gegessen hatten, er war zur selben Zeit ins Bett gegangen. Die Routine hatte ihm geholfen, wieder ein äußerlich normales Leben zu führen. Zu spät allerdings für den Erhalt seiner Arbeitsstelle.
Nachdem er in den ersten Wochen nicht mehr im Büro erschienen war, hatte man ihn rasch entlassen. Er erhielt jedoch eine Hinterbliebenenrente, die ihm ein bescheidenes Überleben ermöglichte. Und so hatte er jeden Tag Zeit zu Trauer und Erinnerung.
Sein Leben lief rückwärts. In die Vergangenheit gerichtet. Er hatte begonnen, mit sich selbst zu reden. „Weißt du noch“, war zu seiner Lieblingsphrase geworden. Nein, er redete nicht mit sich selbst, sondern mit Elisabeth. Sie schwelgten in gemeinsamen Erinnerungen.
Eines Tages hatte Martin begonnen, ein Bild von seiner verstorbenen Frau zu suchen. Er fand keines. Mit Entsetzen hatte er nämlich festgestellt, dass ihr Bild in seinem Kopf undeutlicher wurde. Und diese Suche wurde zu einem neuen, quälenden Ritual. Was war, wenn er kein Bild von ihr besaß? Sie hatte sich nie gern photographieren lassen. Aber nicht einmal auf den belanglosen Schnappschüssen, die sich im Laufe eines Lebens unweigerlich ansammelten, war sie zu sehen. Es war, als hätte es sie nie gegeben.
Martin ging mit schweren Schritten ins Schlafzimmer. Er öffnete den breiten, mahagonifarbenen Kleiderschrank. Ihr Geruch trieb ihm aus den geöffneten Türen sanft und schwach entgegen. Auch er hatte an Intensität verloren. Traurig schloss Martin den Schrank und sah hinaus aus dem Fenster.
Der Garten war der Grund gewesen, warum sie dieses Haus gemietet hatten. Es war eher ein Park. Tiefgrüner englischer Rasen wurde von Ulmen, Eichen und Buchen eingerahmt, und in einem kleinen Teich spiegelte sich die Haube eines sechseckigen gusseisernen Gartenhauses. Dort, vor dem mit Rankrosen und Efeu gewachsenen Gartenhaus, hatten sie oft unter einer Birke gesessen, deren gestutzte, herabhängende Zweige eine Höhle bildeten. Hier hatten sie Tee getrunken, sich unterhalten, dem Gesang der Amseln und Nachtigallen gelauscht und einander zugelächelt. Martin schaute hinüber zu dem sechseckigen Pavillon.
Fast glaubte er Elisabeth dort stehen zu sehen. Er rieb sich die Augen. Natürlich stand dort niemand unter der laublosen Birke.
Nach ihrem Tod hatte er gehofft, ein Zeichen von ihr zu erhalten, aber nichts war gekommen. Inständig hatte er sich gewünscht, noch
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