Spiegelglas
einmal mit ihr vereint zu sein, sei es auch nur im Traum. Nicht einmal dieser Wunsch wurde ihm erfüllt.
Er schaute wieder nach draußen.
Doch, da war etwas, knapp vor den herabhängenden Zweigen der winterkahlen Birke. Dort lag etwas im Gras. Es war kaum mehr als ein heller Fleck. Gestern, als Martin auf derselben Runde durch das Haus wie heute an diesem Fenster gestanden hatte, war da unten klein Fleck gewesen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Das war die größte Veränderung seit den Herbststürmen vor einem Monat, als eine der Ulmen umgestürzt war und seitdem wie ein sinnloser Wegweiser auf dem Rasen lag und in Richtung des Pavillons deutete. Und jetzt dieser Fleck.
Doch ein Zeichen?
Martin hastete aus dem Schlafzimmer, rannte die mit einem dichten, jedes Geräusch schluckenden Läufer bedeckte Treppe hinunter, riss die schwere Haustür so heftig auf, dass die Jugendstilverglasung leise klirrte, und eilte um das Gebäude herum in den winterlich kahlen Garten.
Die Sonne stand dicht über den Wipfeln der frierenden, nackten Bäume. Letzte, geschwächte Strahlen tasteten über den Rasen, der längst nicht mehr kurz geschoren war wie früher, sondern üppig wucherte und allerlei Unkraut eine Bleibe bot. Der helle Fleck hingegen war auch von hier unten aus gut sichtbar. Er lag im Grün wie eine kleine, graue Sonne. Martin watete durch das hohe Gras auf den Pavillon zu, von dem die Farbe abblätterte. Er hätte schon längst neu gestrichen werden müssen; der Rost fraß sich an der filigranen Konstruktion entlang, und davor, wie eine Kugel auf einem üppigen Kissen, lag er.
Der Kopf.
Martin hob ihn auf. Ihm blieb das Herz stehen. Es war Elisabeths Kopf.
Natürlich war es nicht ihr Kopf. Es war nur ein Stein von der Größe eines Hauptes. Doch er besaß Gesichtszüge. Sie waren stark verwittert; vielleicht war es einmal der Kopf einer Statue gewesen. Wo mochte der Rest sein?
Martin nahm den Stein mit ins Haus und stellte ihn auf einen Sockel, auf dem die Nachbildung eines antiken Minervahauptes geruht hatte. Je länger er vor dem bemoosten Stein stand, desto stärker empfand er die Ähnlichkeit mit Elisabeths Gesichtszügen. War dies das Zeichen, war dies das ersehnte Bild von ihr?
Am nächsten Morgen betrachtete Martin den Kopf lange, bevor er frühstückte. Die Ähnlichkeit wurde immer unheimlicher. Inzwischen glaubte er Elisabeths hohe Wangenknochen, das feste Kinn mit dem kleinen Grübchen und die römisch gerade Nase zu erkennen.
Bevor er aufgeregt, freudig und ängstlich zugleich zu Bett ging, nahm er sich vor, Elisabeths Züge deutlicher herauszuarbeiten.
Am nächsten Morgen lief er noch im Schlafanzug in den Keller und holte Hammer und Meißel. Er hatte nie zuvor in Stein gearbeitet und wunderte sich über sein Selbstvertrauen, einen Kopf skulpturieren zu können. Irgendwie wusste er, dass ihm dabei jemand helfen würde.
Sie.
Er trug den Stein ins Freie und begann mit der Arbeit. Zuerst ritzte er die Oberfläche kaum. Doch bald wusste er, wie fest er zuschlagen musste, um eine feine Linie zu schaffen. Der Stein half ihm, denn er gab die groben Umrisse ja schon vor. Die Splitter flogen, und immer deutlicher formten sich Elisabeths Züge. Erst als am späten Nachmittag ein feiner, eiskalter Nieselregen einsetzte, bemerkte Martin, dass er noch seinen Schlafanzug trug. Er schleppte den Stein nach drinnen und stellte ihn wieder auf die Säule.
Es war atemberaubend.
Ja, das war sie. Die Augen fehlten noch, die Fenster der Seele. Und das Haar war mehr zu erahnen als zu erkennen. Martin freute sich schon auf den nächsten Tag.
Er arbeitete, bis die Sonne unterging, und wieder hatte er sich nicht angekleidet. Es war ihm egal. Als er den Kopf hineintrug, war er ein vollkommenes Abbild seiner verstorbenen Frau.
Nun fehlte nur noch der Körper.
Am nächsten Tag zog Martin sich an, nachdem er der Skulptur auf der Säule im Wohnzimmer einen glücklichen Kuss gegeben hatte. Dann machte er sich auf die Suche nach einem passenden Felsblock, aus dem er Elisabeths Körper modellieren wollte. Er fand ihn am Rande eines nahegelegenen Feldes. Ein Bauer war ihm mit dem Traktor und einer Seilwinde behilflich, und nach einem großen Trinkgeld war er sogar bereit, den Block in Martins Garten aufzustellen. Nachdem diese schwierige und anstrengende Arbeit bewältigt war, holte Martin den Kopf aus dem Haus und zementierte ihn auf den Körper, der noch der Bearbeitung harrte.
Diese Aufgabe war viel schwieriger als die Modellierung des
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