Spiegelglas
Gesichts, denn der Block gab Elisabeths Umrisse nur sehr zögerlich preis. Tag für Tag hämmerte und meißelte Martin im Garten, bei Sonne, bei Regen und auch bei Schnee. Beinahe wäre er verzweifelt, denn das Werk kam kaum voran, was auch daran lag, dass Martins Erinnerung an Elisabeths Körper schneller verblasst war als die an ihr wunderbares, zartes Gesicht. Als die Tage schon wieder länger und die Bäume mit einem ersten Hauch von Grün überzogen wurden, war er endlich mit seiner Arbeit zufrieden. Er legte sein Werkzeug weg, ging ins Haus, wusch sich, kam zurück in den Garten und stand Elisabeth gegenüber.
Sie trug das wunderbar altmodische, in langen Falten herabfallende Kleid, in dem er sie am liebsten gesehen hatte, und neigte sich ihm leicht zu. Der Stein hatte diese Haltung geradezu erzwungen. Er trat an sie heran und küsste sie auf die vollen Lippen. „Du bist zurückgekehrt“, sagte er leise. „Du hast mir meinen Wunsch doch noch erfüllt.“ Er trat einen Schritt von ihr zurück und lächelte sie zuerst ehrfürchtig, dann immer inniger und vertrauter an. Der Wind sang in den Bäumen, und von der Statue kam eine unendlich leise Stimme: „Ich werde dir noch einen weiteren Wunsch erfüllen.“ Er trat wieder ganz nah an sie heran und flüsterte: „Einen Tag. Ich will noch einmal einen ganzen Tag mit dir verleben.“ Elisabeth streckte die Hand aus; Martin ergriff sie. Sie war warm, so wie früher. Dann machte sie einen winzigen Schritt auf Martin zu. Sie umarmten sich. Er strich ihr über das seidenschwarze Haar, drückte ihr einen Kuss auf die zarte Haut und blickte in ihre rehbraunen Augen. Vor Freudentränen konnte er kaum etwas erkennen.
Sie verbrachten den Tag an einem ihrer Lieblingsplätze hoch über dem Ort und genossen den Blick über weite Felder, Wiesen und Wälder. Es war, als seien sie nie getrennt gewesen. Er trank jede Minute mit Seligkeit. Er tauchte ein in ihren Duft, in den Klang ihrer Stimme, in das Meer ihrer Berührungen.
Am Abend kehrten sie zum Haus zurück. Als sie wieder dort stand, wo er sie zum ersten Mal umarmt hatte, sagte sie: „Dein Wunsch ist erfüllt. Jetzt musst du gehen.“ „Ich will nicht. Ich kann nicht, Jetzt, nach diesem Tag, nicht mehr.“ „Du musst.“ „Und was ist, wenn ich es nicht tue?“ Sie antwortete nicht. Da stand seine Entscheidung fest. - - -
Als die Miete zum ersten Mal nicht überwiesen wurde, stattete Rüdiger Klein seinem Haus am Rande des Ortes einen Besuch ab – den ersten, seit er es an das junge, glückliche Paar vermietet hatte. Er traf niemanden im Haus an. Also schaute er im Garten nach. Dort fand er neben dem verwahrlosten Pavillon zwei Steinblöcke vor, die entfernt an menschliche Gestalten erinnerten. „Moderne Kunst. Das muss weg“, brummte Rüdiger Klein verächtlich. Seine Suche nach den Mietern jedoch blieb ergebnislos.
Ende
Hinter dem Spiegelglas
Miriam lauschte an der Wohnungstür. Kein Laut drang aus dem Treppenhaus. Hinter dem winzigen Glas des Spions blieb alles dunkel. Sie konnte es wagen.
Vorsichtig zog sie die leichtgängige, gut geölte Tür auf, lehnte sie hinter sich an und huschte die Treppe hinunter, ohne Licht zu machen. Sie kannte den Weg im Schlaf. Dreizehn Stufen bis zum nächsten Absatz, dann wieder dreizehn, und sie stand vor den Briefkästen im Hausflur. Ihre Schuhe mit den Kreppsohlen hatten kaum einen Laut verursacht. Ihr Briefkasten war der zweite von rechts. Obwohl sie nichts sehen konnte, fand sie das Schlüsselloch sofort, drehte den kleinen Schlüssel sanft nach links. Nur ein kleines Klacken war zu hören. Sie zog das Türchen auf – gut geölt – und tastete nach Post.
Nichts. Gut. Nichts, worauf man reagieren musste. Miriam seufzte glücklich. Das Atmen fiel ihr nicht leicht, und sie war froh, den Rückweg in ihre Wohnung antreten zu können. Behutsam verschloss sie ihren Briefkasten wieder und drehte sich um.
Sie ging immer nachts zum Briefkasten – ein- oder zweimal die Woche; öfter war nicht nötig. Nachts konnte sie sicher sein, dass die anderen Bewohner des kleinen Mietshauses schliefen. So bestand nicht die Gefahr, dass Miriam jemandem begegnete. Wenn sie jemand ansähe, würde er ihr ein Stück Seele aus den Augen ziehen. Oder ihr Blut nehmen. Denn die anderen waren Vampire. Alle.
Miriam schüttelte sich, als sie daran dachte, wie sie einmal Herrn
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