Spiegelkind (German Edition)
Vater grundsätzlich abnorm – und wenn meine Mutter es hörte, war der Streit unvermeidlich. Dabei hatte sie selber keine einzige Tätowierung, jedenfalls, so weit ich es sehen konnte.
»Wieso hat man dir das erlaubt?«, fragte ich und deutete mit der Gabel auf den Schlangenkopf. »In der Schulsatzung steht doch, dass Tattoos verboten sind, genauso wie Schmuck, Nieten und farbig lackierte Fingernägel.«
»Das ist kein Tattoo.« Ksü schaffte es, Rucolasalat mit Croutons in sich hineinzuschaufeln und mir gleichzeitig zu antworten, ohne zu schmatzen. »Ich habe ein Attest, dass es nicht mehr weggeht. Sie dürfen mir deswegen die Aufnahme nicht verweigern. Das steht auch so in der Satzung.«
»Aha«, sagte ich und beschloss, bei Gelegenheit nachzulesen. Jeder Lyzeist hatte das kleine dicke Buch mit tausendundeiner Schulregel zu Hause, aber kein Mensch schaute da rein.
Jetzt saß ich wie auf heißen Kohlen. Mir war, als würden mich alle anstarren.
»Meinst du, du wirst den Lernstoff schnell nachholen?«, fragte ich. Ich hoffte eigentlich, dass das Gegenteil eintreten würde. Dann würde sie gehen müssen und alles wäre wieder so wie früher. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich schnell wieder Anschluss finden könnte. Vermutlich könnte ich dann allen gegenüber so tun, als wäre Ksü nie hier gewesen, und sie würden es akzeptieren.
»Ich lerne schnell«, sagte Ksü unbekümmert und zog einen Teller mit Reis und Lamm zu sich heran. »So schwierig ist das alles hier nicht.«
»Nicht?«, fragte ich, unangenehm überrascht. Ich war immer stolz auf meine guten Noten gewesen. Wollte Ksü jetzt sagen, dass das an dem viel zu einfachen Lernstoff lag?
»Jedenfalls danke, dass du den Tutor heute von dieser schrecklichen Wie war dein Tag -Morgenrunde abgelenkt hast. Ich fühle mich dann immer durchleuchtet«, sagte ich widerwillig.
»Das hat man dir angesehen«, sagte Ksü.
»Mir angesehen?« Jetzt wollte diese merkwürdige Erscheinung auch noch wissen, was ich gedacht hatte.
»Und wie. Bitte nicht fragen, habe einen beschissenen Tag und eine noch schrecklichere Nacht hinter mir , das stand richtig auf deiner Stirn geschrieben.«
Meine Hand fuhr automatisch nach oben zu meiner Stirn und betastete sie.
»Nicht wörtlich gemeint.« Ksü lächelte.
»Verstehe«, sagte ich, meine Laune endgültig auf dem Gefrierpunkt.
»War er denn so schlimm, dein Tag?«, fragte Ksü, ohne mich anzusehen.
»Ging so«, brachte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Ich hatte es wirklich für eine Weile geschafft, nicht daran zu denken, dass meine Mutter gestern verschwunden war und ich keine Ahnung hatte, wo sie steckte und wie es ihr ging. Der Ärger im Bus, die Betreuung der Neuen, mein erster schwarzer Punkt – all das hatte mich abgelenkt. Aber jetzt schossen mir die Tränen in die Augen. Ich schirmte mein Gesicht mit der Hand ab, als würde mich das Neonlicht der Kantine blenden.
Ksü beugte sich tiefer über ihren Teller und stellte keine Fragen mehr.
Es dauert keine fünf Minuten und ich weiß nicht mehr, aus welcher Richtung ich gekommen bin. Ich traue mich nicht zu schreien, weil ich Angst vor der eigenen Stimme habe. Ich gehe einfach weiter, durchs Gestrüpp, Dornen zerren an meinen Kleidern, zerkratzen meine Beine.
Pheentochter
Im Bus auf dem Weg nach Hause setzte ich mich neben Artemis. Artemis hatte mich vor vier Monaten zu ihrem Geburtstag eingeladen, der sich als handverlesene Gesellschaft herausgestellt hatte. Deswegen hielt ich uns durchaus für ein wenig befreundet. Die ganze Party war damals zusammen ins Kino gegangen und hatte sich einen Film über ein Prinzessinneninternat angesehen. Es war ein Film für kleine Kinder, zum fünfzehnten Geburtstag fand ich ihn etwas seltsam, sagte aber nichts. Danach waren wir zu Artemis nach Hause gegangen und hatten mit einer zertifizierten Schmuckdesignerin aus goldenen und silbernen Einzelteilen und falschen Edelsteinen Ketten gefertigt, die wir dann mit nach Hause nehmen durften. Alle Mädchen sagten, wie schade es sei, dass man in der Schule keinen Schmuck tragen dürfe. Auch ich sagte das, obwohl ich die gebastelte Halskette und das Armband zu Hause sofort Kassie geschenkt hatte.
Artemis nickte mir zu und drehte sich wieder in Richtung Fenster.
»Temi, meine Mutter ist spurlos verschwunden. Einfach so«, sagte ich. Jetzt, auf dem Weg nach Hause, hatte ich meinen Kummer mit voller Wucht wieder. Ich hatte nicht schlecht geträumt, es war wirklich
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