Spiegelkind (German Edition)
passiert. Obwohl ich mir hartnäckig Mühe gab, von einer baldigen Rückkehr meiner Mutter auszugehen, drückte mir die Sorge bleischwer aufs Herz.
Artemis drehte den Kopf kurz zu mir und sah dann wieder weg.
»Es ist außerdem noch bei uns eingebrochen worden, irgendein Freak, sagen alle, vermutlich drogenabhängig. Die werden ja auch immer gewalttätiger«, fuhr ich fort.
»Ich würde dir empfehlen, zur Polizei zu gehen«, sagte Artemis mit glockenheller Stimme. »Es ist besser, sich mit Problemen an Experten zu wenden. Sie können dir weiterhelfen.« Es klang wie auswendig gelernt.
»Du hast recht«, sagte ich frustriert und wartete auf noch etwas, Worte des Mitgefühls, Neugierde wenigstens, einfach eine menschliche Reaktion, aber es kam gar nichts. Artemis schwieg, als hätte ich etwas unglaublich Peinliches gesagt, das sie aus Höflichkeit übergehen wollte.
Mir war mehr denn je zum Heulen zumute.
Als ich aus dem Bus ausstieg und um die Ecke bog, begann mein Herz, glücklich zu hämmern – in der Küche unseres Hauses brannte Licht, jemand war da. Ich begann zu rennen, meine Schultasche schlug gegen meine Hüfte. Es hatte aufgehört zu regnen, aber die Pfützen waren noch genauso tief. Es spritzte unter meinen Füßen und meine Wildlederstiefel wurden sofort nass.
»Mama!«, schrie ich und stieß die Tür auf, atmete den Kaffeeduft ein, rannte in die Küche … und entdeckte meine Großmutter Ingrid.
»Oh«, sagte ich und hatte sofort ein schlechtes Gewissen, weil ich mich bei ihrem Anblick todunglücklich fühlte. Und bestimmt sah sie mir das an. Als ich noch klein war, hatte ich die Mutter meines Vaters durchaus gemocht. Ich hatte mich gefreut, wenn sie und Opa Reto uns besuchten. Sie hatten immer Schokolade und Spielsachen mitgebracht und mir meine erste Konsole geschenkt. Doch später fand ich ihre Mitbringsel – meist Parfumproben und funktionale Unterwäsche – nicht mehr so richtig aufregend, dafür begann mich die geladene Stimmung zwischen meiner Mutter und meinen Großeltern umso mehr zu stören. Nach der Scheidung hatte sich unser Verhältnis weiter abgekühlt und jetzt war ich einfach nur frustriert. Es war nicht Ingrid, die ich sehen wollte.
Sie tat so, als würde sie es nicht merken. Sie schloss mich in ihre Arme und küsste mich auf beide Wangen, was selten genug vorkam. Dazu musste sie sich inzwischen auf die Fußspitzen stellen.
»Du solltest nicht noch mehr wachsen«, sagte sie streng.
Ihre Wangen waren glatt und leicht flauschig von der letzten Kosmetikbehandlung. Wie die meisten normalen Frauen arbeitete Ingrid nicht, sie kümmerte sich um den Haushalt und sehr gründlich um ihr Äußeres, trainierte täglich im Sportstudio, ging alle vier Wochen zum Friseur und zur Schönheitsbehandlung in den Salon »Reife Beauty«. Ihre Haare waren perfekt in Form und frisch nachgefärbt, aber trotz aller Mühen sah sie kein bisschen jünger aus, als sie war. An ihrem Mund bildeten sich Falten, wie sie eigentlich nur sehr alte Frauen hatten.
Ich hatte überhaupt nichts gegen alte Frauen (nicht, dass ich viele kannte), ich hatte bloß das Gefühl, dieser welkende Mund wollte zum Rest von Ingrid besonders schlecht passen, zu ihrem gestählten Körper in den schmal geschnittenen Hosen und dem jugendlichen Kapuzenpullover, der sich nur in der Farbe von dem Kleidungsstück unterschied, das ich ebenfalls im Schrank hängen hatte. Ihr Pulli war weinrot und meiner smaragdgrün. Der Mund sprengte Ingrids sämtliche Bemühungen, sich das Alter nicht ansehen zu lassen. Deswegen tat sie mir ein bisschen leid.
»Was von Mama gehört?«, fragte ich.
Täuschte ich mich oder verzog meine Großmutter ganz leicht das Gesicht?
»Hast du nasse Füße?«, fragte sie zurück. »Dann zieh dir ganz schnell warme Socken an.«
»Vergiss die Füße, gibt es Nachrichten von Mama?«, sagte ich etwas lauter.
Ingrid drehte mir den Rücken zu und rührte lange und gründlich in dem Topf, der auf dem Herd stand.
Ich sah auf ihren durchtrainierten, geraden Rücken und dachte, dass es nicht wahr sein konnte.
Meine Mutter und meine Großmutter hatten sich nie gut verstanden, sich aber immerhin umeinander bemüht. Früher. Sie hatten versucht, sich miteinander zu unterhalten, wenn es Gelegenheit dazu gab, was etwas mühsam wirkte, denn Ingrid verstand oft nicht, was meine Mutter meinte. Meine Großmutter war überhaupt ein bisschen schwerfällig im Verstehen, auch ich musste ihr die einfachsten Dinge lange erklären.
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