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Spiegelkind (German Edition)

Spiegelkind (German Edition)

Titel: Spiegelkind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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Mama hatte immer gesagt, Ingrid habe eine grundsätzlich andere Art zu denken, was eine sehr nette Erklärung für Begriffsstutzigkeit war. Sie schenkten sich trotzdem Blumen (Mama) und Parfum (Ingrid) zum Geburtstag und versuchten tapfer, weiter miteinander ins Gespräch zu kommen.
    Das war, bevor meine Mutter beschlossen hatte, Papa zu verlassen. Als meine Großeltern davon erfuhren, erkannte ich sie kaum wieder. Es war, als hätte man einen Deckel von einem Topf genommen, in dem jahrelang Hass und Abneigung geköchelt hatten. Jetzt brodelte alles über und meine Großeltern sagten hinter Mamas Rücken, was sie schon immer von ihr gehalten hatten. Und dass sie von Anfang an gewusst hatten, dass diese Ehe ein Fehler war – eine Meinung, die ich mit ihnen durchaus teilte.
    Ich musste Ingrid nicht fragen, ob sie sich vielleicht darüber freute, dass meine Mutter verschwunden war. Käme Mama nämlich nicht mehr zurück, konnte meine Großmutter endlich das tun, was sie sich schon die ganze Zeit gewünscht hatte: zu uns ziehen und sich um alles, alles kümmern. Sauber machen, noch mehr Bücher in den Keller tragen, noch mehr Spiegel aufstellen und darauf achten, dass Nachbarn auch von unserer Seite des Zauns mit den nötigen Tratsch-Infos versorgt wurden.
    Und, vor allem, Mamas Quadren entsorgen, weil sie Ingrid Kopfschmerzen machten. Meine Großmutter weigerte sich, Mamas Quadren anzusehen, als hätten sie etwas Anstößiges, was normale Menschen nicht betrachten durften. Dabei war fast immer nur Wald auf Mamas Quadren und überhaupt hatte ich noch nie im Leben etwas Schöneres gesehen.
    Deswegen sagte ich jetzt nichts mehr. Mir war kalt, ich hatte immer noch die nassen Wildlederstiefel an. Ich zog sie aus, streifte die feuchten Socken ab, warf sie in den Wäschekorb.
    Das Gute an Ingrids Anwesenheit war, dass so etwas wie Wäschewaschen bei ihr tadellos funktionierte. Ich musste nicht suchen und dann fluchend feststellen, dass meine Mutter immer noch nichts gewaschen hatte, weil sie mit den Gedanken bei ihren Quadren gewesen war. Alle Sachen lagen gebügelt und nach Waschpulver duftend in meinem Schrank.
    Ich zog mir trockene Socken an, schlüpfte in meine Turnschuhe und nahm mir meine dicke Jacke.
    »Wo gehst du hin?« Ingrid wischte gerade den Backofen aus und sah aus der Hocke zu mir auf.
    »Ins Zentrum«, sagte ich, und bevor sie etwas erwidern konnte, stand ich schon wieder im Regen.
    Das war gelogen – was sollte ich im Zentrum? Ich verließ unser Viertel nur, wenn ich zum Lyzeum fuhr, und auch dann nur mit dem Schulbus. Im Viertel war alles, was man zum Leben brauchte: die gigantischen Markthallen in der Vierten Straße, in denen man von den Schnürsenkeln bis zum künstlichen Kaviar alles kaufen konnte. Ein nagelneues Jugendzentrum mit einem Basketballfeld und mehreren Computerräumen an der Siebten. Dort trafen sich Jugendliche aus dem Viertel, um zusammen SYSTEM zu spielen. Vermutete ich jedenfalls, denn ich ging nie hin.
    Fast alle Kinder unter zehn hatten ein Abo fürs Juniorland mit Hüpfburgen und künstlichen Grotten. Es gab mehrere Servicestellen für Altenpflege, Fitnessstudios und diverse Läden für kosmetische Behandlungen, zwei Parks und ein Schwimmcenter. Natürlich war unser Viertel nicht das einzige normale. Meine Großeltern lebten in einem benachbarten, das sich auf der Stadtkarte an unseres schmiegte wie eine Bienenwabe. Im Mittelpunkt der Karte leuchtete silbrig das Zentrum. Hier gab es keine Wohnhäuser, sondern nur Regierungsgebäude und die Sitze wichtiger Unternehmen. Hier arbeitete auch mein Vater in der zwölften Etage eines verspiegelten Büroturms. Obwohl ich täglich im Zentrum zur Schule ging, fühlte ich mich dort fremd. Die Gebäude waren größer, die Straßen breiter, Autos fuhren schneller und aggressiver und es waren fast nur Erwachsene auf den Straßen. Und, anders als bei uns zu Hause, waren viele von ihnen nicht normal. Hier hatte ich als kleines Kind meine ersten Freaks gesehen – mit ihren wahnsinnigen Frisuren, den dreckigen Klamotten und ihren irren Blicken.
    Man konnte ihnen natürlich nicht verbieten, ins Zentrum zu gehen. Viertel wie das unsere waren dagegen sicher. Ich wusste, dass Freaks eigene Wohnbezirke hatten, und stellte sie mir als überbevölkerte Dreckslöcher vor. Als ich kleiner war, hatte mir mein Vater verraten, dass es zwischen den Vierteln immer noch spärlichen öffentlichen Nahverkehr gab. Das hatte mir nächtelang Albträume von U-Bahnen

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