Spiegelriss
torkelnd die Straße herunter. Ich sehe ihn an seinem Handgelenk nesteln, er zerrt am ID-Armband, bricht mit ungeduldigen Fingern den Verschluss auf. Die kleine silbrige Schlange des Armbands fliegt ins Gebüsch.
Schnitt. Eine Menschentraube am Kanal, dessen trübe Wellen an den Stahlwänden hochschlagen. Rettungskräfte in Mintgrün ziehen einen Körper hoch, nasse Haarsträhnen kleben auf seiner Stirn.
Es ist wie ein Albtraum. Ich will diesem Jungen nicht mehr zusehen – nicht dabei, wie er in seinem Zimmer die Spielsachen in die Kisten packt, nicht, wie er in einer anderen, sehr kleinen Wohnung nachts am Küchentisch sitzt und auf seine Mutter wartet, die große runde Uhr an der Wand im Blick. Ich schüttele heftig den Kopf, zwinge mich zum Aufwachen.
Ich bin im Wald, mein Hinterkopf ruht auf dem weichen Moos, ich sehe den Himmel über den Baumkronen. Der Wald beschert seltsame Träume, die lange nachwirken, denke ich. Eigentlich dürfte es nichts Neues für mich sein, aber ich hätte nicht geglaubt, dass dieser Wald hier es auch vermag. Langsam verstehe ich, was die Normalität gegen den Wald hat. Ich drehe den Kopf und sehe Kojote, der sich neben mir ausgestreckt hat, sein Gesicht ist mir zugewandt, es ist blass und ruhig, die Augen geschlossen. Und ich weiß, dass er wach ist.
»Was ist mit deiner Familie passiert?«, frage ich.
»Nichts Besonderes«, sagt er.
»Und sucht dich niemand?«
»Mich sucht niemand.« Er lächelt. »Dich?«
Ich zucke mit den Achseln. Im Liegen fühlt sich das merkwürdig an.
»Du hast den ganzen Tag verschlafen«, sagt er. »Jetzt wird es wieder Abend und wir sollten aufbrechen.«
»Das kann nicht sein«, sage ich.
»Doch«, sagt er. »Ich dachte schon, der Wald hat dich umgebracht. Aber du hast dich hin und her geworfen, also wusste ich, dass du noch lebst.«
»Vielen Dank«, sage ich, »das ist eine gute Nachricht. Hast du auch geschlafen?«
»Nein«, sagt er. »Ich will hier nicht einschlafen.«
»Warum nicht?«
Er antwortet nicht.
»Ich weiß, warum«, sage ich. »Du hast Angst, dass du Albträume bekommst.«
»Nein«, sagt er schlicht. »Ich habe nicht vor den Albträumen Angst, sondern davor, was sie mit mir machen. Ich will den Wald nicht in meinen Kopf lassen. Wenn ich schlafe, bin ich ihm total ausgeliefert.«
»Den Wald in deinen Kopf? Was sagst du da?«
»Vergiss es. Ich will einfach von hier verschwinden, bevor es noch einmal dunkel wird.«
Eine spöttische Antwort liegt mir auf der Zunge, aber ich verkneife sie mir. Kojote und Angst – das passt in meinen Augen nicht wirklich zusammen. Dass er Angst vor dem Wald hat und ich nicht, schmeichelt dem, was von meinem Selbstbewusstsein übrig geblieben ist.
Ich erinnere mich an mich selber, als die Normalität noch mein Zuhause war. Ich hatte keine Angst vor dem Wald, wie ich auch keine Angst vor den Pheen hatte: Beides kam in meiner Welt einfach nicht vor. Der Wald existierte nur in den Quadren meiner Mutter, er füllte unsere Zimmer mit Schönheit und Geborgenheit und flüsterte mich in den Schlaf. Den anderen, atmenden, mal gnadenlosen, mal zärtlichen Wald hatte ich erst kennengelernt, als ich durch das Quadrum gegangen war.
Für einen kurzen Moment habe ich Lust, Kojote alles zu erzählen. Über die Quadren. Über meine Mutter. Und wie ich alles kaputt gemacht habe.
Doch ich verkneife es mir.
Er sieht mich aufmerksam an. Der Himmel ist klar, es wird rasch dunkel, im Mondlicht haben seine Augen einen gelblichen Farbton, wie bei einer Katze.
»Hast du einen Ort, an dem du schlafen kannst, Babyfuß? Außer dieser Wiese, meine ich? Ich mach mich jetzt auf den Weg. Wenn du willst, begleite ich dich noch eine Weile.«
Natürlich gibt es einen solchen Ort. Ich habe schon an ihn gedacht, als ich mit Kojote vor seinem alten Haus stand. Aber jetzt habe ich wieder Angst vor dem, was mich dort erwartet.
»Meinst du, wenn es einen Ort gäbe, an dem ich willkommen wäre, wäre ich jetzt hier?«, sage ich trotzig, während zwischen meinen Schläfen die Frage kreist, warum er mich begleiten will. »Wäre ich dann überhaupt vorher beim Rudel gewesen?« Ich schüttele den Kopf. »Nein, ich bleibe hier.«
»Wie du willst«, sagt er, steht auf und klopft sich die Grashalme von der Hose. »Ich gehe.«
Ich sehe zu, wie er sich entfernt, seine Schritte wirken nicht eilig, aber dennoch ist er bald zwischen den Bäumen verschwunden und ich werde allein bleiben auf der ganzen Welt.
»Warte!«, rufe ich, springe auf
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