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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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Nacht für mich sicherer war als der Tag, jedenfalls, was die Polizeikontrollen anging.
    Trotzdem werde ich immer noch sofort müde, sobald die Sterne am Himmel funkeln. Und ich denke jetzt, dass wir uns langsam einen Schlafplatz suchen müssen.
    Kojote steht nach wie vor erstarrt vor seinem früheren Haus in der Henry-Aneko-Straße . Ich berühre ihn am Ärmel. Ich weiß ziemlich genau, was jetzt in ihm vorgeht. In Gedanken sieht er sich durch das Fenster steigen und den fremden Jungen aus seinem, Kojotes, Bett werfen. Die wichtigste Frage habe ich ihm gar nicht gestellt, ich halte sie für zu intim. Ich würde so etwas schließlich auch nicht beantworten.
    »Was genau ist deiner Familie passiert, Kojote?«
    Es entsteht eine Pause, in der ich mir am liebsten die Hand vor den Mund halten würde.
    »Entschuldige«, schiebe ich schnell nach.
    »Hör auf damit«, fällt er mir ins Wort. »Wir sind nicht auf einem Absolventenball.«
    Ich klappe beschämt den Mund zu.
    »Wir müssen hier weg«, sagt er. »Es wird bald hell und die Normalen werden aufwachen, Kaffee trinken, Vollkorntoast mit Vitaminmarmelade essen und zur Arbeit fahren. Sobald uns jemand hier sieht, ruft er sofort die Polizei. Wir haben noch Glück, dass in diesem Viertel nicht so viel kontrolliert wird wie in den anderen.«
    »Ist es nicht überall gleich?«
    »Es ist nie überall gleich«, sagt Kojote, seine hellen Augen auf die Eingangstür mit den Gartenzwergen davor gerichtet. »Es ist ein kleines, unbedeutendes Viertel. Die Leute, die hier leben, hatten nie viel Geld. Ihre Privilegien sind begrenzt.«
    »Oh«, sage ich, zum ersten Mal mit der Vorstellung konfrontiert, dass es auch unter den Normalen Unterschiede gibt. »Dann lass uns jetzt trotzdem gehen.«
    »Ja, lass uns gehen«, sagt er, rührt sich aber nicht von der Stelle.
    Ich zupfe ihn am Ärmel.
    Plötzlich löst sich die Starre und er schießt nach vorn, springt über den Zaun und hebt einen der Zwerge auf, der offenbar ganz schön schwer ist. Bevor ich kapiere, was er vorhat, schrillt die Alarmanlage los. Damit hat er offenbar nicht gerechnet. Er springt über den Zaun zurück auf den Bürgersteig und holt aus. Ich packe seinen Arm, versuche, ihn aufzuhalten, und bringe ihn immerhin zum Taumeln.
    »Hör auf, Kojote«, flüstere ich, spüre seine steinharten Muskeln unter den vielen Schichten Kleidung. Der Zwerg fällt runter und schlägt auf meinem Fuß auf. Ich jaule auf.
    Kojote kommt zur Besinnung.
    »Weg hier«, flüstert er, packt meine Hand und zerrt mich davon.
    Wir rennen über die Bürgersteige, die mit hartem Splitt bestreut sind, der sich in unsere Fußsohlen bohrt. Ich bin sofort außer Atem und denke wieder mal, dass ich gleich zusammenbreche. Kojote lässt es nicht zu, dass ich stehen bleibe und verschnaufe. Und wieder passiert es: Gerade dann, wenn ich die Anstrengung nicht mehr ertragen kann, habe ich das Gefühl, mich von meinem Körper zu lösen. Ich spüre keine Schmerzen mehr, fliege an Kojotes Hand, meine Füße schweben über dem Asphalt.
    Wir laufen in die andere Richtung als die, aus der wir gekommen sind. Schon taucht der hohe Maschendrahtzaun auf, oben mit Stacheldraht gesichert, unten allerdings löst er sich von der Verankerung in der Erde. Kojote zerrt die Drähte auseinander, vergrößert die Öffnung und schubst mich. Ich lasse mich fallen und krabbele durch, komme erst auf die Idee, mich umzudrehen und ihm zu helfen, als er sich schon fluchend hindurchgezwängt hat.
    »Weiter«, sagt er und schlägt mir gegen die Schulterblätter, was einen juckenden Schmerz verursacht, der mir durch Mark und Bein geht.
    Ich renne gehorsam noch eine Weile weiter, dann bleibe ich stehen und sehe mich um.
    »Wo sind wir hier?«
    »Im Wald«, sagt er. »Siehst du das nicht?«
    Natürlich sehe ich das, denke ich und bücke mich, stütze die Handflächen auf den Knien ab und versuche, meine Atmung wiederzufinden. Ich spüre meinen Körper wieder, das verkrampfte Zwerchfell, die angerissenen Muskelfasern, den ausgetrockneten Mund. Wir stehen zwischen Bäumen, die in den Himmel ragen, die Füße berühren etwas Feuchtes und wohltuend Warmes, ich bohre meine schmerzenden Zehen in das flauschige Moos.
    »Wieso gibt es hier einen Wald?«, flüstere ich. »War der schon immer hier?«
    Kojote schiebt das hohe Gras mit dem Fuß auseinander. Auch er genießt sichtlich die Streicheleinheiten der Halme.
    »Hier durften wir niemals hin«, sagt er.
    »Wovon redest du?«
    »Als wir klein

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