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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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ich.
    »Woran hast du das bloß schon wieder erkannt? Schlaf nicht, Babyfuß. Wir müssen weiter. Im Zentrum wird dauernd kontrolliert.«
    »Aber wir waren doch neulich erst im Zentrum, am Lyzeum, am helllichten Tag.«
    »Die Zeiten ändern sich. Was gestern noch ging, ist heute möglicherweise schon verboten.«
    Nein, denke ich, das wäre eine zu einfache Erklärung. Auch wenn es sich manchmal so anfühlt – solche Veränderungen kommen nicht über Nacht. In den drei Monaten im Rudel gehörte es einfach zu meiner Überlebensstrategie, Dinge auszublenden. Und in den letzten Stunden mit Kojote ist etwas mit mir passiert und ich kann mich nicht mehr abwenden.
    »Schau, wo du hinläufst«, sagt Kojote.
    Fast wäre ich die Treppe hinuntergeflogen, die unter die Erde führt, in einen schmutzigen Tunnel, dessen Wände in Leuchtfarben besprüht sind. Es stinkt nach Schweiß und Urin. Ich halte mir die Nase zu und schlängele mich an den verdächtigen Pfützen vorbei, die den Boden bedecken.
    »Können wir hier bitte schnell raus?«
    »Können wir nicht. Wir müssen jetzt U-Bahn fahren.«
    Es kommt mir wie Stunden vor, in denen wir in Waggons durchgeschüttelt werden, in denen ich auf einem Fuß stehe, um wenigstens den anderen vor Dreck zu schützen und vor den fremden Schuhen, die es darauf abgesehen zu haben scheinen, mir auf die Zehen zu treten. Immer wieder muss ich ein hysterisches Kichern unterdrücken. So sieht es also aus, ein aktives Leben jenseits der Normalität.
    Ich frage mich, ob ein Küken Schmerzen empfindet, wenn es aus dem Ei schlüpft. Einmal hatte ich schon eine Blase durchbrochen, die mich beschützt hat, und es war schmerzhaft gewesen. Dass ich jetzt wieder zu mir komme, aus der Starre erwache, versetzt mich in einen ähnlichen Zustand nervöser Unruhe, die sich mit Empörung mischt.
    Es ist wirklich wahr, ich bin es, Juli Rettemi, die sich die Kapuze ins Gesicht zieht, um nicht erkannt zu werden. An der U-Bahn-Station prangte mein Gesicht gleich auf mehreren Säulen. Ich habe Kojote daran vorbeigezogen, damit er ja nicht zu genau hinschaut. Vom Geschaukel und Geratter des Waggons ist mir übel. Ich bin hoffnungslos übermüdet und zugleich sind alle meine Sinne hellwach.
    Ich mustere verstohlen die anderen Passagiere. Einige haben sich auf den Bänken ausgestreckt, die Füße ragen über die Sitze hinaus in den Gang. Die grünen, roten und blauen Frisuren fallen mir nicht mehr auf, auch nicht die verkrusteten Klamotten, in unzähligen Schichten übereinandergetragen.
    Mein Blick bleibt an einer Frau hängen und mein Herz stockt für einen Moment. Sie trägt ein langes Kleid und darüber einen Umhang, der schmutzig aussieht, aber je genauer ich hinschaue, desto klarer wird mir, dass es bloß ein raffiniertes Muster ist, das Dreck vortäuschen soll. Auch sie hat sich eine Kapuze übergezogen, trotzdem fallen mir die gelockten hellen Strähnen auf, die hervorschauen. Naturfarbe. Die Frau scheint mein Interesse zu spüren, denn sie dreht sich kurz in meine Richtung.
    Ich wende mich nicht schnell genug ab.
    Unsere Blicke treffen sich. Jetzt sehe ich nur noch ihre Augen, von einem durchdringenden Grün, das mir durch Mark und Bein geht. In diesen Augen liegt etwas, was keiner der anderen Passagiere in diesem Waggon hat, das niemand im Rudel gehabt hat und auch sonst keiner, der mir in den letzten Wochen begegnet war. Und an diesem Blick erkenne ich sie sofort. Sie ist eine Phee.
    Schlimmer ist, dass sie mich anschaut. Auch sie kann sich nicht von mir abwenden. Wann habe ich das letzte Mal in den Spiegel gesehen? Habe ich jetzt etwa auch diesen Blick? Hat sie mich daran erkannt? Kennt sie meine Mutter? Ist sie eine Schwester von ihr? Wenn dem so wäre, dann wüsste sie auch sofort, wer ich bin, denn mein Bild hängt mit fast schon schmeichelhafter Penetranz überall in der Stadt herum. Verbindet uns etwas, bin ich wie sie? Warum merke ich dann nichts?
    Der Waggon hält an. Sie wirft mir eine Kusshand zu und steigt aus.
    »Hast du sie gesehen?« Ich stupse Kojote an, aber er schläft im Stehen, eine Hand am Haltegriff. Ich rüttele an seiner Schulter, er öffnet ein Auge.
    »Ich glaube, hier war gerade eine Phee.«
    »Hurra«, sagt er mit Grabesstimme. »Jetzt hat der Babyfuß auch noch Halluzinationen.«
    »Habe ich nicht. Hier war eine.«
    »Das glaube ich nicht. Je mehr über Pheen geredet wird, desto seltener kriegt man welche zu Gesicht. Neulich habe ich gehört, wie sich ein Normaler beklagt hat, dass

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