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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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weiter. Ich traue mich nicht zu fragen, wie lange wir noch laufen müssen. Meine Füße schmerzen mehr als sonst. Es ist etwas kälter als die Tage davor, ich bin ungefähr das Zehnfache gelaufen von dem, was ich gewohnt war. Kojote sieht mich humpeln.
    »Wir müssen fahren«, sagt er.
    »Wir können nicht«, sage ich schwach und drehe mein Handgelenk vielsagend vor seiner Nase hin und her. Ohne Armband kann ich keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen. Und als ich noch eins hatte, bin ich nur mit dem Schulbus gefahren – oder mein Vater hatte mich mit dem Auto mitgenommen.
    Kojote lacht, hebt seinen Arm in die Höhe und macht eine winkende Bewegung über meine Schulter hinweg. Ich weiche erschrocken zurück: Direkt vor uns hält ein dreckiger, scheppernder Kleinbus.
    Kojote holt mich mit eiserner Hand an seine Seite, schiebt mich hinein und quetscht sich hinterher. Mir verschlägt es den Atem. Das Fahrzeug quietscht und rattert jämmerlich, und sobald sich die Türen hinter uns geschlossen haben, drücke ich mich verängstigt an Kojote. Der Bus ist voll mit bunthaarigen Gestalten, aber das Schlimmste ist der Gestank. Ich versuche, die Luft anzuhalten, rieche aber trotzdem eine Mischung aus altem Schweiß, faulen Zähnen und etwas anderem, wovon mir schwindlig wird.
    Das Gute ist, dass niemand uns anschaut. Kojote hat dem Fahrer ein paar Münzen in die Kasse geworfen und hält sich jetzt an einer Stange fest. Ich komme an keine dran, aber er stützt mich mit seiner freien Hand. Mein Gesicht ist gegen seine Halsbeuge gepresst. Erleichtert stelle ich fest, dass er gut riecht. Ich atme den Duft seiner Haut ein und plötzlich sehe ich wieder den kleinen Jungen vor mir, der seine Eltern durch den Türspalt beobachtet. Er hat Kojotes helle Augen, aber sein Mund ist ängstlich verzerrt, nicht so spöttisch gekrümmt wie jetzt.
    Ich blinzele das Bild weg und versuche, durch das verschmierte Fenster irgendwas von der Umgebung zu erkennen, was mir bekannt vorkommt und woran ich mich orientieren könnte. Der Bus hält alle paar Minuten an – weil jemand am Straßenrand winkt oder weil einer der Passagiere dem Fahrer »Ich muss an der nächsten Ampel raus!« zugebrüllt hat. Einmal stopft sich gleich ein Dutzend Leute hinein. Als der Fahrer erneut anhält, um jemanden einsteigen zu lassen, hagelt es Protestrufe. Innerlich schließe ich mich ihnen an – der Bus ist schon jetzt völlig überfüllt. Der Fahrer streitet heiser mit denen, die drin sind, und mit denen, die reinwollen. Die Leute an den Türen versuchen zu verhindern, dass sich jemand von außen dazuquetscht.
    »Ich schmeiß euch alle raus!«, brüllt der Fahrer und ich drücke mich noch dichter an Kojote.
    »Wir müssen sowieso gleich aussteigen«, flüstert er mir ins Ohr. »Fang an, dich zum Ausgang durchzukämpfen.« Weil ich wie gelähmt bin, schiebt er mich voran. Ich pralle gegen eine Schulter, trete auf einen Fuß, ziehe den Kopf ein, als ich wüst beschimpft werde, und reiße erleichtert den Mund auf, als wir endlich herausgefallen sind. Schon lange habe ich mich nicht mehr so über frische, kalte Luft in meinen Lungen gefreut.
    »Was war das für eine Buslinie?«, frage ich. »Habe ich noch nie gesehen.«
    Kojote zuckt die Achseln. »Eine Freak-Busgesellschaft. Es sind unzählige unterwegs.«
    »Wovon leben sie?«
    Kojote zwinkert mir zu. »Sicher nicht von den Busfahrkarten.«
    Ich nicke, als würde ich irgendwas verstehen. Wir überqueren eine sechsspurige Straße. Natürlich ist es Kojote zu weit, bis zur Ampel zu laufen. Er packt mich an die Hand und springt von einer Spur zur nächsten, Autos zischen an uns vorbei, ich habe das Gefühl, dass sie mich gleich streifen, zucke immer wieder zusammen, aufgeschreckt vom aggressiven Hupen. Irgendwann gehe ich nicht mehr davon aus, dass ich den gegenüberliegenden Bürgersteig noch erleben werde.
    Aber dann stehen wir doch da. Ich reiße das Kinn hoch zu den Bürotürmen, in deren Glasfassaden sich die Leuchtreklame der benachbarten Hochhäuser spiegelt. HYDRAGON – UNSERE ARBEIT FÜR IHRE SAUBERKEIT. VITAPLUS – MEHR ALS LEBENSMITTEL. SEID WACHSAM: DIE PHEEN SIND UNTER UNS.
    Ich stolpere und falle fast hin, Kojote fängt mich auf.
    »Seit wann?« Ich deute auf den riesigen blinkenden Schriftzug hoch im Himmel. »Seit wann steht es so da?«
    »HYDRAGON ist eine bekannte Marke.« Kojote lacht in sich hinein. Wieder schaue ich ihn misstrauisch an. Was weiß er über mich?
    »Sind wir im Zentrum?«, frage

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