Spiegelriss
und renne ihm hinterher. Ich hole ihn am Zaun ein und gehe auf die Knie, um durch den Riss in den Maschen zu klettern. Jetzt ist es richtig dunkel, ich bleibe auf der Straße unter einer Laterne stehen und Kojote auch.
»Vielleicht hast du noch nicht genug nachgedacht. Nenn mir den Ort, ich bring dich dahin«, sagt er.
»Warum?«, flüstere ich und er drückt mir seinen Zeigefinger auf die Lippen.
»Psst«, sagt er leise, legt mir den Arm um die Schultern und zieht mich weg von den Laternen, in den Schatten, der undurchdringlich dicht ist wie ein schwarzer Vorhang.
Bus & Bahn
Nenn mir den Ort, ich bring dich dahin.
Ksü und Ivan, denke ich.
Jetzt oder nie.
Jetzt oder ich schlafe wieder ein und werde nicht mehr richtig lebendig.
Jetzt oder ich bin nicht mehr ich.
Ich nenne Kojote die Adresse, froh darüber, dass auf mein Gedächtnis wenigstens in diesem Punkt Verlass ist.
»Wo ist das?«, fragt er gleichgültig.
»Bei Z«, sage ich.
»Klingt nicht nach einem Normalenviertel.«
»Es sind Freunde von mir. Freaks«, sage ich. »Also ihre Eltern sind Freaks. Was sie selber sind, weiß ich nicht so genau. Sie haben einen Sonderstatus. Es hat mich nie groß interessiert.«
»Wie tolerant von dir, Babyfuß ohne ID-Armband«, sagt er und der Spott in seiner Stimme, an den ich mich eigentlich gewöhnt haben sollte, lässt mich reflexartig die Schultern hochziehen. »Ich bringe dich zu deinen Freunden, die einen Sonderstatus hatten und deren Eltern Freaks sind, was dich allerdings nie interessiert hat. Und dann kümmere ich mich endlich wieder um meinen eigenen Kram.«
Das könntest du jetzt schon tun, liegt mir auf der Zunge. Aber ich spreche es nicht aus. Nun, wo die Entscheidung gefallen ist, wünsche ich mir nur, dass er mich so schnell wie möglich zu Ksü und Ivan bringt und dann wieder verschwindet.
Mit Kojote unterwegs zu sein, fühlt sich an, als würde man mit einem Igel kuscheln. Gemütlich ist etwas anderes. Eben noch lächelt er. Dann ein falsches Wort von mir und schon ergießt sich ein Schwall eiskalten Hohns über meinen Kopf. Und zugleich hat er etwas von einem Blindenhund. Die Blinde bin ich – weil ich durch die Gegend stolpere, die Straßenschilder anblinzel, mich nicht mehr traue zu fragen, wo wir uns eigentlich befinden.
»Schau mal«, flüstert er in mein Ohr, als wir das Normalenviertel durch ein Loch im Zaun verlassen haben und an diesem Zaun nun entlanglaufen wie Besucher im Zoo. »Siehst du die Schranke da? Das Wachhäuschen? Sie lassen mittlerweile nur diejenigen passieren, die als Anwohner registriert sind oder eine schriftliche Einladung vorweisen können.«
Ich denke an das Viertel, in dem ich aufgewachsen bin. Ich würde da inzwischen also gar nicht mehr reinkommen. Ich befinde mich jetzt auf der anderen Seite des Zauns.
In der Nacht klingt die Stadt anders als am Tage, die Geräusche sind leiser, aber gleichmäßiger, ein kaum wahrnehmbares Summen kommt von den Strommasten, die in den Himmel ragen. Es ist wie ausgestorben, die Normalen bleiben nachts sowieso zu Hause, andere – wie wir – machen sich möglichst unsichtbar, um keiner der verstärkten Nachtkontrollen in die Hände zu fallen.
Einmal hält Kojote in einem Park an und zeichnet mit einem Stock Bienenwaben auf die Erde. Meine Ahnungslosigkeit ist einfach nicht auszuhalten, sagt er und füllt einige Waben mit Strichen aus. Das ist der Stadtplan und ich soll mir endlich ein paar Sachen merken. Ich erkenne das Zentrum, das logischerweise in der Mitte liegt. Die gleichmäßigen Tortenstücke des ersten Rings sind die Normalenviertel, gelegentlich durch schmale, von den Freaks bewohnte Streifen voneinander abgegrenzt. Die äußeren Kreise wirken chaotischer, die gestrichelten Normalengebiete kommen wie Inseln daher, die sich dennoch bis zum letzten Ring aneinanderreihen, umgeben von Freak- oder Niemandsland, wie Kojote es formuliert. Ich traue mich nicht zu fragen, ob es eine offizielle Bezeichnung ist.
»Und was beginnt hier?« Ich zeige mit der Fußspitze auf die Gegend jenseits des äußeren Rings.
»Der Wald, Süße«, sagt Kojote mit einem Seufzer. »Stadtkunde ungenügend. Kann man das Lyzeum eigentlich verklagen?«
»Die Stadt ist umgeben vom Wald?«
»Und der Ring zieht sich, wenn man die Nachrichten richtig versteht, immer enger zusammen.« Kojotes Grinsen lässt ahnen, dass diese Aussicht ihn nicht sonderlich betrübt.
Ich sehe mir die Skizze an, versuche, sie mir einzuprägen. Aber Kojote drängt
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