Spiegelriss
waren. Weißt du, meine Familie hatte nicht viel Geld. Mein Vater war sehr stolz, als wir uns endlich ein Eigenheim leisten konnten. Das Viertel hatte nicht den besten Ruf, aber es war immerhin normal. Das war ein Aufstieg für ihn. Ich habe erst viel später kapiert, dass die Bauplätze wegen der Nähe zum Wald viel günstiger waren als anderswo. Uns Kindern wurde eingebläut, dass wir niemals über den Zaun in den Wald dürfen.«
»Warum nicht?«
Ich sehe mich um, der Wald ist im Vergleich zu meinem Wald ziemlich mickrig, die Bäume hoch, doch ihre Stämme schmal und krumm, die kahlen Äste sehen schwach aus.
»Gibt’s hier etwa wilde Tiere?«
»Als ich klein war, behaupteten sie, die Pheen wohnen hier«, sagt Kojote.
Ich schaue wieder zu ihm. »Wenn man alles zusammenträgt, was man über Pheen sagt…«
»…kommt ziemlich viel Mist zustande«, stimmt mir Kojote überraschend zu. »Ich habe auch nie eine gesehen. Hatte aber als Kind trotzdem immer Angst. Als ich klein war, galt es unter uns als Mutprobe, zum Zaun zu gehen und ihn anzufassen. Schon das hat sich niemand getraut. Angeblich hat es früher, noch vor meiner Zeit, Kinder gegeben, die sich nicht an das Verbot gehalten haben und im Wald verschwunden sind.«
Mich beginnt es zu frösteln. »Was ist mit ihnen passiert?«
»Das weiß eben niemand. Sie sind nie wieder zurückgekommen. Sagen die Leute.«
»Haben die Pheen sie adoptiert?«
Kojote betrachtet mich amüsiert. »Eher gefressen, hat man bei uns damals behauptet.«
»Ich habe hier noch nie einen Wald gesehen«, sage ich. Hier in der Normalität, füge ich in Gedanken hinzu.
»Die Normalität führt permanenten Krieg gegen den Wald«, sagt Kojote. »Als ich klein war, fuhren jede Woche Zisternen mit Pflanzenvernichtungsmitteln und Männer in Schwarz mit riesigen Kreissägen vorbei. Haben aber nie geschafft, ihn komplett auszurotten.«
Ich nicke und spüre plötzlich eine bleierne Müdigkeit, die von den Füßen hochsteigt und meinen Körper schwer und unbeweglich macht. Ich sinke auf das weiche Moos, schiebe mir die Handfläche unter den Kopf. So gut habe ich lange nicht mehr gelegen.
»Ich muss ein wenig schlafen«, murmele ich. »Sofort.«
Kojote hockt sich neben mich. Ich zucke zusammen und fahre sofort hoch, als seine rauen Fingerkuppen meinen linken Fuß berühren.
»Was soll das?«, fauche ich.
»Entschuldige«, sagt er, lässt mich aber nicht los, sondern fährt mit dem Daumen über meinen Fußrücken.
Ich entziehe ihm meinen Fuß. Erst jetzt sehe ich den länglichen blauen Fleck, der sich auf der gräulichen Haut abzeichnet. Der verdammte Zwerg, den Kojote hat fallen lassen. Überraschende Schmerzen gehören inzwischen so fest zu meinem Leben, dass ich sie entweder nicht richtig wahrnehme oder sofort vergesse.
»Wenn du vorhin nicht gewesen wärst, hätte ich jetzt ein Problem«, sagt Kojote.
Ich zucke mit den Schultern und schließe die Augen. Eigentlich müsste ich mich bedanken, aber dazu bin ich zu müde.
»Ich hätte nicht gedacht, dass sie eine Alarmanlage haben. Zu meiner Zeit… ich meine, als wir noch in dem Haus gelebt haben, hatten wir nichts von der Art. Ich bin automatisch davon ausgegangen, dass auch sie keine haben werden.«
»Mmmmh«, sage ich. Ich brauche seine Erklärungen nicht. Ich weiß genau, was in ihm vorgegangen ist, und das lässt ihn in meinen Augen ein wenig anders erscheinen. Irgendwie näher, verständlicher. Außerdem bin ich müde und will jetzt nichts mehr hören. Nicht, wie es nun genau dazu gekommen ist, dass seine Familie alles verloren hat. Nicht, was mit seinen Eltern passiert ist. Ist ja auch so schon klar, dass es keine schöne Geschichte ist. Überhaupt sind schöne Geschichten Mangelware geworden.
Ich schlafe ein. Auf der Innenseite meiner geschlossenen Augenlider spielt sich ein Film ab, den ich mir ansehen muss; nicht weil er mich wirklich interessiert, sondern weil es nichts anderes zu sehen gibt. Ich blicke auf ein streitendes Ehepaar in einer engen Küche. Einen kleinen blonden Jungen, der mit aufgerissenen Augen seine schreiende Mutter anschaut, die hellsten Augen, die ich je gesehen habe. Die Szenen wechseln sich schnell ab, als würde man ein Video vorspulen.
Der Mann allein in der Küche, etwas gierig aus einer Dose in sein Gesicht sprühend, die Augen geschlossen, den Mund aufgerissen, die Nasenflügel bebend. Der Mann verlässt das Haus, die Tür fällt ins Schloss, die Spiegel an den Wänden erzittern. Er läuft
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