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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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ihm auch erklären, was hier passiert, wenn ich es selbst nicht verstehe? In Gedanken haste ich irgendwohin, fliehe wieder einmal, wahrscheinlich in das kleine Stückchen Wald, das uns in dieser Nacht beherbergt hat. In Wirklichkeit rühre ich mich nicht von der Stelle und halte sogar den Atem an.
    Die schweren Augenlider heben sich. »Habt ihr Hunger? Ich kann euch Esssssen geben.«
    Kojote schaut mich weiter fragend an. Ich bin immer noch erstarrt, die Augen auf das Gesicht geheftet, in dem ich langsam nun doch die vertrauten Züge wiedererkenne. Ksü, denke ich. Meine beste Freundin, mit der etwas passiert ist, was nicht sein kann
    Dann fällt die Starre von mir ab. Ich schüttele mich wie ein nasser Hund. Jetzt bin ich hier und ich renne nicht weg. Kojote tritt zur Seite, um mich durchzulassen. Ich setze einen Fuß vor den anderen, trete über die Schwelle ins Dunkle, Warme, ziehe gierig die Luft ein. Hier hat es immer so gut gerochen, ein bisschen wie bei meiner Mutter, nach Kuchen, Vanille, nach feuchtem Fell irgendwelcher Tiere und den staubigen Seiten alter Bücher. Jetzt riecht es nach gar nichts, nur eine schwache Note Haushaltsreiniger reizt meine geschundenen Atemwege.
    Ich werfe die Kapuze zurück, drehe mein Gesicht ins Licht, ihr direkt entgegen.
    Sie blinzelt, ihr Mund öffnet sich staunend, die gespaltene Zunge schießt zwischen den Lippen hervor, um sofort wieder zu verschwinden, eine ruckartige Bewegung, und ich denke, gleich wird sie mich beißen und es ist alles vorbei.
    Aber sie wirft sich mir um den Hals und ruft dabei meinen Namen.
    Das Erste, was ich in der Küche sehe, ist die leere Wand. In der Mitte ist ein großes Rechteck dunklerer Farbe, hier hatte das Quadrum mit der auf der Fensterbank knienden Kassie gehangen und das Stück Wand vor den ausbleichenden Sonnenstrahlen bewahrt. Die Enttäuschung, dass es nicht mehr da ist, nimmt mir jeden Antrieb.
    Ich lasse mich auf einen Stuhl fallen und strecke die Beine aus. Ich will nicht, denke ich. Ich will mich nicht an die Zeit erinnern, die ich mit Ksü verbracht habe, an die am Anfang so irritierende Erfahrung, zum ersten Mal im Leben eine Freundin zu haben. Nachdem ich mich daran gewöhnt hatte, hatte es mich regelrecht beflügelt – zu wissen, dass ich nicht allein bin, egal, was passiert.
    Und jetzt? Ich schäme mich dafür, dass ich Angst vor ihr habe und mich ein wenig ekele, anstatt glücklich zu sein. Ich hatte mich so davor gefürchtet, sie nie wiederzusehen. Dabei hätte ich mich viel eher davor fürchten sollen, was von ihr ich wiedersehe.
    Tief in mir drin geht das Feuer aus und meine Sicht trübt sich.
    Ksü starrt auf meine rissigen Füße mit den langen abgebrochenen Zehennägeln. Dann blickt sie zu Kojote hoch, der sich hinter meinem Rücken aufgebaut hat. Ich bemühe mich, nicht nach links und rechts zu schauen, als könnte ich es übersehen: Der Ort, den ich für kurze Zeit geliebt habe, hat jetzt etwas Totes.
    Meine Augen treffen Ksüs. Sie kommt langsam näher, ihre Bewegungen sind von einer schleichenden Geschmeidigkeit. Sie streckt den Arm aus. Ich drücke mich gegen die Stuhllehne. Ich spüre ihre Hand in meinen Haaren, auf meinem Gesicht, sie betastet mich wie eine Blinde. Alles in mir schreit, dass dieses Wesen hier vor mir nicht Ksü ist, aber ich reiße mich zusammen.
    »Bisssst du das wirklich?«, fragt sie.
    Ich greife hinter mich, nehme mir ein gräuliches, einst fröhlich gemustertes Küchentuch von einem Haken, stehe auf und feuchte es am Waschbecken an, fahre mir damit übers Gesicht. Kojotes Blick verrät mir, dass diese Maßnahme mich nicht automatisch ansehnlicher macht, aber ich hoffe, dass damit wenigstens Ksüs Zweifel ausgeräumt sind. Mein Gesicht ist schließlich noch dasselbe wie früher.
    »Ich dachte, du wäresssssst tot«, sagt Ksü und nimmt ihre Finger aus meinen verfilzten Haaren. »Ich dachte, du wäressssst verbrannt.«
    »Das habe ich von dir auch gedacht«, flüstere ich.
    »Nein. Wir wurden rausgeworfen. Sssofort.« Sie zeigt auf einen Punkt auf den Küchendielen, der sich unter dem Rechteck an der Wand befindet.
    »Was, direkt hierher?«
    Sie nickt.
    »Das heißt…«, formuliere ich ganz vorsichtig, um nicht zu früh Hoffnung zu schöpfen. »Ihr seid ganz normal durch das Quadrum hierher zurückgekommen.«
    »Normal würde ich dassss nicht nennen.« Ksü verzieht den Mund und wird dabei ihrem früheren Selbst, das ich so vermisse, ein wenig ähnlicher. »Wir sssssind gerannt, weg von den

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