Spiegelriss
man neuerdings weder eine vernünftige Heilerin noch eine Wahrsagerin auftreiben kann. Nur Freak-Fälschungen. Der Preis für Pheentee ist in astronomische Höhen gestiegen. Die ganzen Hetzkampagnen sind schuld. Wenn du mich fragst, die Pheen haben die Nase voll und verschwinden endgültig.«
»Aber wohin?«, frage ich atemlos.
»Bin ich eine Phee?«, fragt er zurück.
»Ich hab überhaupt noch nie eine auf der Straße gesehen!«
»Hast du überhaupt schon mal irgendwas in deinem Leben gesehen?«
Diesmal lass ich mir die Unverschämtheit nicht gefallen und trete ihm in die Kniekehle. Damit hat er nicht gerechnet, er knickt ein und fällt hin. So stark wollte ich ihn nicht treffen. In Erwartung einer knüppelharten Revanche ziehe ich den Kopf ein. Aber er rappelt sich einfach wieder auf und klopft mir auf den Rücken, genau zwischen die Narben.
»Nicht schlecht für den Anfang«, sagt er. »Wir steigen aus.«
Es kommt mir wie ein Wunder vor, dass wir jetzt tatsächlich durch Ksüs Siedlung laufen. Meine Müdigkeit ist von einer Aufregung verdrängt worden, die meine Hände zittern und die Knie schlottern lässt. Es kommt mir wie ein Verrat vor, dass ich so aufgeregt bin. Schließlich hätte ich schon seit Monaten hierherkommen können.
Ich schaue mich um, bin mir noch nicht ganz sicher, dass es wirklich Ksüs Siedlung ist, aber Kojote sagt, ich soll mir ja nicht ins Hemd machen, die Adresse stimmt, er habe ein implantiertes Navi im Hirn.
»Echt?«, frage ich überrascht.
»Nein, Dummkopf.«
Ich beschließe, es zu ignorieren. »Dann müssten hier Ratten sein«, sage ich und drehe den Kopf hin und her.
»Ratten sind doch längst abgeschafft«, sagt Kojote. »Alle angeblich von der Stadtverwaltung vergiftet. Wobei ich ja eher denke, die sind einfach in den Wald geflohen.«
Keine Ratten auf den Straßen, das finde ich wiederum ziemlich gut. Ich schäme mich für meine Erleichterung, als ich an Ksüs geliebte Haustiere denke. Laub raschelt unter meinen Füßen. Ich glaube es erst, als ich es sehe: Das Haus ist das letzte in der Reihe, es ist mit keinem anderen zu verwechseln, eigentlich nur ein halbes Haus, mit verbogenen, verkohlten Kanten, als wäre eine Hälfte von einer riesigen, grausamen Hand abgerissen worden.
Im Grunde ist es genauso gewesen. Eine Explosion hat es zerstört und Ksüs Eltern umgebracht. Bis heute ist nicht eindeutig geklärt, was sie verursacht hat. Die Polizei behauptet, dass es an den Quadren meiner Mutter gelegen hat, die Ksüs Eltern in ihrem Haus aufbewahrt haben. Ksü und Ivan gingen von einem Attentat aus, aber sie hatten keine Chance, es zu beweisen. Dafür, dass sie die Angelegenheit auf sich beruhen ließen, kamen sie in den Genuss von Privilegien, die für andere Jugendliche aus Freak-Familien unerreichbar waren. Dazu gehörte auch der Normalen-Status.
Ich schaue zu dem verwundeten Haus hoch, dem schiefen Dach, den zugeklappten Fensterläden. Es sieht leblos und verlassen aus. Jetzt habe ich meine Gewissheit.
Mir sitzt ein Kloß im Hals, als ich mich zu Kojote drehe. »Wir hätten uns den ganzen Weg sparen können. Sie sind nicht mehr hier.«
»Da kommt aber Rauch aus dem Schornstein«, sagt Kojote nachdenklich. Ohne auf mich zu achten, steigt er die Treppenstufen zur Eingangstür hoch und klopft mit der Faust dagegen.
Ksü
Wer wagt es, im Haus zu wohnen, das Ksü und Ivan gehört, frage ich mich, während meine Ohren schlürfende Schritte im Inneren des Hauses wahrnehmen und sich die Tür so langsam öffnet, dass ich dahinter einen uralten Menschen vermute. Dass im Haus meiner Freunde Fremde leben können, empört mich viel mehr als die Vorstellung, dass auch mein eigenes Kinderzimmer längst jemand anderem gehört.
Ich zucke zusammen, als ich das Geschöpf erblicke, das sich nun nach draußen schiebt. Es ist einen Kopf kleiner als ich, hat schuppige Haut auf dem kahlen Kopf und unmenschliche Augenlider, die sich schwer heben bei unserem Anblick. Dann setzt sich das ausgeblichene Muster auf dem Schädel, je länger ich es angucke, zu etwas Vertrautem zusammen. Ich schnappe nach Luft. Ist sie das oder ist sie das nicht?
Der Mund des Geschöpfs, ein schmaler und fast lippenloser Spalt, öffnet sich ein wenig.
»Wassss wollt ihr?« Die Stimme ist leise und zischend, aber ich kann nicht antworten, denn ich bin gelähmt.
Selbst Kojote scheint beeindruckt. Er schaut fragend zwischen dem Geschöpf und mir hin und her. Ich habe keine Erklärung für ihn. Wie könnte ich
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