Spiegelriss
dass ich in einen richtigen Spiegel geschaut habe. Habe ja immer nur nach meinen Spiegelbildern in Schaufenstern und Pfützen gesucht, mich dort aber auch nicht wiedererkannt, kannst du dir ja vielleicht denken. Das gilt aber nicht nur für mich, sondern für alles drum rum, es fühlt sich an wie ein Zerrspiegel von dem, was früher mal gewesen ist.«
Dann habe ich plötzlich genug davon, beim Sprechen in sein maskenhaftes Gesicht zu schauen.
»Gib mir ein Zeichen, dass du mich hören kannst, Ivan«, sage ich. »Irgendeinen kleinen Hinweis, dass du dich an mich erinnerst und mich wiedererkennst. Ich kann mich leider nicht mehr ausweisen, um meine Identität zu beweisen. Ich hab mein ID-Armband im Wald gelassen und kann nicht mehr zurück. Der Wald, du erinnerst dich vielleicht noch.«
Es ist, als würde jetzt irgendetwas in Ivans Kopf Klick machen.
»Jetzt red nicht so einen Unsinn«, sagt er mit alltäglicher Stimme, als wäre alles wie immer, dreht sich um und lässt mich kurz stehen, verschwindet im Flur, um wenig später mit einem Paar Hausschuhen zurückzukehren, die er vor meine Füße wirft. Ich schau drauf, als hätte ich so etwas noch nie im Leben gesehen. Auf einmal wage ich es nicht, meine schmutzigen Zehen da hineinzustecken, und bleibe einfach daneben stehen.
Ivan scheint es nicht weiter zu kümmern. Er dreht mir den Rücken zu und beugt sich über Ksü und Kojote. »Du siehst dir immer noch absolut ähnlich«, wirft er mir über die Schulter zu, während er versucht, die beiden im Kampf Erstarrten voneinander zu lösen. Schließlich hebt er ächzend Ksü hoch, ihre Arme und Beine baumeln herunter, der Kopf ist zurückgeworfen.
»Was hat sie?«, frage ich.
»Sie ist betäubt«, sagt Ivan. »Schlafgas.«
»Du benutzt Schlafgas gegen deine Schwester?«
»Es wirkt schneller als Argumente. Und es ist völlig unschädlich. Sie ruht sich aus und am Morgen ist sie wieder wach.« Er dreht mir abermals den Rücken zu und verlässt die Küche.
Ich beuge mich über Kojote, der auf den Dielen zusammengesunken ist. Dabei fällt mir ein, dass ich ihn noch nie schlafend gesehen habe. Ich studiere sein Profil. Es überrascht mich, dass er eine sehr gerade Nase und ein Grübchen auf dem Kinn hat. Er sieht jünger aus als im Wachzustand. Ich schaue mich um auf der Suche nach etwas Weichem, das ich ihm unter den Kopf schieben könnte. Die Dielen knarzen erneut – Ivan ist wieder da, stellt sich neben mich und blickt auf Kojote herunter.
»Welches Problem hatte Ksü mit ihm?«
»Hab ich auch nicht genau verstanden«, gestehe ich.
»Hat er sie provoziert?«
»Nicht wirklich. Höchstens ein ganz klein bisschen.«
»Sie lässt sich im Moment sehr leicht provozieren.« Ivan schaut an mir vorbei auf das Rechteck an der Wand. »Das ist ziemlich gefährlich. Deswegen habe ich sie krankschreiben lassen. Sie geht nicht mehr aufs Lyzeum. Streng genommen darf sie gar nicht auf die Straße. Sie könnte mit dem, was sie dort sehen würde, überhaupt nicht umgehen.«
Die Vorstellung, dass Ksü weiter aufs Lyzeum gehen könnte, während ich die Mülltonnen vor dessen Tor nach Essensresten durchwühle, kommt mir absurd vor.
Ich denke an die gespaltene Zunge und daran, was aus Ksü geworden ist. Aus jener Ksü, die früher so gelächelt hat, als könnte ihr nichts Böses passieren. An die ich mich schreiend geklammert habe, als wir auf ihrem Moped durch die Stadt gerast sind. Mir ist danach zu weinen, obwohl ich mir das längst abgewöhnt habe.
»Was macht sie denn die ganze Zeit?«
»Sie sitzt zu Hause.« Ivan schiebt mit der Fußspitze Kojotes Ärmel hoch. Im Gegensatz zu mir ist er beim Anblick des ID-Armbands kein bisschen überrascht. »Sie trauert dem Wald nach. Und dir. Ich mag mir nicht ausmalen, was der Anblick dieser Fahndungsplakate bei ihr auslösen würde. Ich kann es nicht riskieren, dass sie einen Anfall in der Öffentlichkeit kriegt.«
Ich spüre die heiße Empörung in mir. »Das heißt, du sperrst sie ein?«
»Hast du eine bessere Idee?«
»Aber ich bin doch wieder da«, sage ich dümmlich.
Ivan dreht sich zu mir. Ich habe Angst vor seiner Antwort. Aber er sagt gar nichts. Deswegen verrate ich ihm nicht, wie sehr ich mich gefreut habe, ihn zu sehen. Ich schäme mich für meine Begeisterung von vorhin, so sehr, dass ich spüre, wie meine Wangen glühend rot werden. Ich wende mich ab.
»Du hast dich verändert«, sage ich, ohne ihn anzusehen.
»Nicht nur ich«, sagt er bitter.
»Was ist denn
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