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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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und dem Papier hin und her, legt den Kopf schief und schnalzt mit der Zunge.
    »Du hast dich verbessert«, sagt er schließlich.

Hypnos
    Danach passieren mehrere Dinge gleichzeitig. Ich höre, wie jemand die Eingangstür mit einem Schlüssel öffnet und das Haus betritt, etwas Schweres im Flur ablegt, bevor die Dielen im Flur unter seinen Füßen knarzen, immer lauter, je näher es kommt. Mein Herz klopft wieder schneller, aber diesmal nicht vor Angst.
    Dann werde ich kurz abgelenkt, weil Ksü, die etwas Zeit gebraucht hat, um das Plakat zu studieren, zu einem Schluss gekommen ist, mit dem ich nicht gerechnet habe. Mit einem Zischen wirft sie sich zwischen Kojote und mich, krallt sich an seiner Jacke fest, er weicht zurück und sie prallen gemeinsam gegen die Wand. »Lassss sie in Ruhe«, zischt sie und drischt auf Kojote ein.
    »Halt!«, brülle ich, weil mich Ksüs Zunge irritiert, hat sie vielleicht sogar Giftzähne, denke ich, wenn sie jetzt Kojote beißt, was dann? Habe ich einen Mitwisser weniger? Ich versuche, Ksü an den Schultern zu packen, kriege aber nur ihren Ellbogen gegen die Nase. Dass ich drei Monate auf der Straße gelebt habe, hat noch keine gute Schlägerin aus mir gemacht.
    Ich richte mich auf, drücke die Hand gegen die Nase, sie fühlt sich an, als wäre sie abgeschlagen, und entsetzt sehe ich, wie es rot in meine Handfläche tropft. Und so, bluttriefend und mühsam atmend, drehe ich mich zu Ivan, der mit kalkweißem Gesicht und merkwürdig ausgestrecktem Arm den Raum betritt.
    Beim Anblick seiner mit Kojote verkeilten Schwester überlegt er nicht lange. In seiner ausgestreckten Hand blitzt eine kleine silbrige Dose auf. Er zögert nur kurz und richtet sie gegen das fluchende und zischende Knäuel. Eine nach Veilchen duftende Wolke hüllt Gliedmaßen und herumfliegende Fetzen ein, von denen ich nicht sofort erkenne, ob es sich um herausgerissene Haarbüschel oder herausgebissene Stoffstücke handelt. Ich spüre etwas Ätzendes in der Kehle und dann richtet Ivan die Dose mit der Düse in meine Richtung. Ich strecke den Arm ebenfalls aus – an meiner blutigen Hand zittern alle Finger gleichzeitig.
    »Ich bin’s doch, Ivan«, flüstere ich. »Juli.«
    Ich sehe in sein Gesicht, das sich im Gegensatz zu Ksüs kaum verändert hat. Weiß Gott, womit ich gerechnet habe. Er ist sogar etwas schöner geworden, die Gesichtszüge ebenmäßiger, ich nehme mir die Zeit, sie zu studieren, während ich an der Sprühdose vorbeiblicke, die mir die Sicht verstellt. Sogar in dieser Situation wirkt Ivan fast unnatürlich ruhig. Wir starren uns in die Augen, seine sind von einem dunklen Blau. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass auch Ksü und Kojote inzwischen zu einer unheimlichen Ruhe gekommen sind, auf den Boden gesunken, die Arme immer noch umeinandergelegt. Man könnte sie jetzt für ein Liebespaar halten.
    »Ich bin’s, Ivan«, flüstere ich. »Bitte glaub mir. Ich weiß zwar selber nicht mehr genau, wer ich bin, aber auf jeden Fall bin ich das Mädchen, das einmal Juli geheißen hat. Ich sehe etwas anders aus, als du mich vielleicht in Erinnerung hast. Das liegt daran, dass ich die letzten Wochen auf der Straße gelebt habe, in einem Rudel obdachloser Jugendlicher. Ich habe mich so dreckig gemacht wie nur möglich, denn als ich den Wald wieder verlassen hatte, hingen überall in der Stadt Fahndungsplakate herum, die mich zu einer Mörderin erklärten. Ich konnte vor Angst nicht mehr denken: Das Einzige, was mir noch klar war, war, dass mich niemand wiedererkennen darf. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich mich verstümmelt, mein Gesicht mit Narben übersät, so sehr hab ich mich gefürchtet. Aber ich bin zu feige, mehr als ein bisschen Dreck um die Nase habe ich nicht hingekriegt. Sieh dir meine Füße an, kannst du dir vorstellen, dass ich früher einmal zur Pediküre gegangen bin? Ist das nicht komisch, Ivan?«
    Ich erzähle ihm all das, aber ich spreche nicht davon, welche Angst ich hatte hierherzukommen, wie sehr ich mich gefürchtet habe, dass sie genauso verschwunden sein würden wie alles andere, das mir etwas bedeutet hat.
    Er weicht nicht zurück, bleibt stehen, als ich auf ihn zugehe, auf seinen ausgestreckten Arm zu, aber sein Gesicht verrät, wie viel Überwindung ihn diese Haltung kostet. Ich lege meine Hand auf die Dose, bedecke damit den Sprühkopf, doch er entzieht mir seinen Arm, lässt ihn schließlich sinken und fixiert mein Gesicht.
    »Hab ich mich so verändert, Ivan? Es ist lange her,

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