Spiegelriss
flach. Jetzt, wo sie schläft, habe ich Zeit, mich an die Veränderung zu gewöhnen, und das tut mir gut. In mir steigt der Wunsch auf, Ksü auf die Schläfe zu küssen, aber wenn Ivan zusieht, werde ich es nicht tun.
Ich bleibe noch eine Weile sitzen und streichel Ksüs Finger, dann stehe ich auf und gehe an Ivan vorbei aus dem Zimmer.
»Warte.« Er hält mich an der Schulter fest. Ich schaue ihn müde an, mache mich innerlich bereit auf noch mehr Worte, die sich wie Ohrfeigen anfühlen. »Glaub mir, Juli, mir wäre es viel lieber, wenn die Dinge anders wären und du bleiben könntest. Aber es ist nicht nur für uns gefährlich. Sondern auch für dich. Ich gehe fest davon aus, dass wir unter verschärfter Beobachtung stehen.«
»Ist klar«, sage ich, ohne ihn anzusehen. »Du wolltest mich eigentlich nie hier haben. Schon früher hattest du das Gefühl, dass ich euch Unglück bringe. Vielleicht hattest du damit recht.«
»Nein, Juli, du siehst es falsch.« Überrascht bemerke ich, dass Ivans Gesicht nicht mehr gleichgültig ist. Warum habe ich früher immer gedacht, dass er so viel älter ist als ich, wundere ich mich. Vielleicht haben mich die Monate ohne Schuhe auf der Straße einige Jahre älter gemacht? Vielleicht hat der Aufenthalt im Wald uns beide so sehr verändert? Jedenfalls habe ich zum ersten Mal das Gefühl, dass wir uns ebenbürtig sind.
»Du kannst nicht mehr in euer Haus zurück«, sagt Ivan leise. Wir stehen jetzt nebeneinander im dunklen Flur, und obwohl ich so enttäuscht bin, klopft mein Herz immer noch schneller und ich denke, vielleicht entscheidet er sich doch um und ich darf bleiben und alles wird gut.
»Danke für die Nachricht.«
»Im Ernst. Ich sage es nur für den Fall, dass du es noch nicht gehört hast. Dort lebt jetzt eine andere Familie. Du wirst nicht einmal ins Viertel gelassen. Du weißt sicher längst, dass nach dir gefahndet wird. Aber hast du schon mal dran gedacht, deine Großeltern aufzusuchen?«
»Ich habe keine Großeltern«, informiere ich ihn matt.
»Natürlich hast du. Die Eltern deines Vaters.«
Rudolf ist nicht dein Vater, sagt die Stimme meiner Mutter.
»Ach so, klar«, sage ich. »Die Eltern meines Vaters. Aber leider haben wir ein etwas zerrüttetes Verhältnis. Wenn ich da auftauche, rufen sie sofort die Polizei.«
»Das glaube ich nicht, Juli. Sieh mal, sie sind im Moment sicher komplett vereinsamt und verzweifelt. Sie haben alles verloren. Bitte fahr zu ihnen, ich bin mir sicher, dass es eine gute Idee ist. Sie werden dir helfen.«
»Sie haben mir noch nie im Leben geholfen. Sie hassen mich.«
»Juli!« Ivan steht so dicht vor mir, dass ich mich wundere, warum er nicht einfach seine Arme um mich legt. Aber er lässt sie kraftlos hängen. »Ich weiß, dass du mir jetzt, nach allem, was ich dir gesagt habe, misstrauen musst. Aber glaub mir bitte. Fahr zu ihnen. Tu es… für mich.«
Hat er es wirklich gesagt? Ich kann seine Augen in der Dunkelheit erkennen, sie sind voller Abgründe und ernst.
»Mal sehen«, sage ich unbestimmt und mache mich auf den Weg zur Treppe. Hinter mir höre ich Ivans Schritte.
Kojote liegt nicht mehr auf dem Boden, sondern sitzt, gegen die Wand gelehnt, an der er sich zusätzlich mit einer Hand abstützt. Er schaut sich um, blinzelt und reibt sich die Augen: Offenbar weiß er nicht mehr so genau, wie er hierhergekommen ist und was ihn erwartet. Als er mich sieht, verzieht sich sein Gesicht zu einem breiten, wenn auch etwas einseitigen Grinsen.
»Der geheimnisvollste aller Babyfüße! Komm her, alter Kumpel.«
»Du bist ja schon wach«, sage ich und auch Ivan guckt überrascht in Kojotes Richtung. Wahrscheinlich hätte er mit längerer Wirkung seines Sprays gerechnet.
Kojote richtet sich langsam weiter auf, wobei er sich an der Wand hochtastet. »Welcher Stoff war das?«, fragt er.
»Hypnos«, antwortet Ivan. »Du hast dich mit meiner kleinen Schwester geprügelt. Ich musste Maßnahmen ergreifen. Nicht persönlich nehmen.«
»Ist deine Schwester die Schlange von vorhin?«
»Kojote!«, sage ich warnend.
»Exakt«, sagt Ivan mit einer Stimme, aus der jegliches Leben gewichen ist.
»Ich hoffe, ich habe sie nicht verletzt«, sagt Kojote und deutet eine wacklige Verbeugung in Richtung Ivan an.
»Ich hoffe, sie hat dich nicht verletzt«, antwortet Ivan ebenso liebenswürdig.
»Und jetzt, bevor ihr euch noch gegenseitig zum Tanzen auffordert, müssen wir leider schon gehen, Kojote«, sage ich.
Für einen kurzen Moment ist
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