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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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beherrscht. »Ich hasse euch nicht. Aber ich habe Angst vor euch.«
    Ich denke an Ksü, die in ihrem Bett einen chemischen Schlaf schläft. Ohne sie wäre ich längst nicht mehr hier. Aber warum gehe ich nicht einfach? Schließlich ist sie es ja nicht wirklich, die da oben liegt.
    Dann aber fällt mir ein, wie sie Kojote angegriffen hat. Sie wollte mich verteidigen, denke ich, und pulsierende Wärme breitet sich in meiner Brust aus. Sie hat mich vermisst wie ich sie. Sie ist immer noch so, wie sie früher war, wenn sie zwei Obdachlose in ihr Haus lässt, um ihnen etwas zu essen zu geben. Auch wenn sie jetzt verändert aussieht und deutlich reizbarer geworden ist. Was der Wald ihr auch genommen haben muss – es scheint immer noch genug von ihrem früheren Selbst da zu sein.
    Sie hat dich so vermisst, dass sie lieber sterben wollte, als ohne dich zu leben, hat Ivan gesagt. Vorhin, da muss sie gedacht haben, dass Kojote etwas Schlimmes mit mir vorhat. Sie hat seine kleine Show mit dem Plakat, das er schon die ganze Zeit bei sich getragen hat, einfach nicht verstanden. Sie war sich sicher, dass er eine Gefahr für mich ist.
    Ich sitze auf dem Boden neben Kojote, der leise schnarcht, nachdem Ivan und ich ihn an den Beinen ins Nachbarzimmer gezogen haben.
    »Ich werde gehen, sobald er aufgewacht ist«, sage ich und versuche, meine Stimme unter Kontrolle zu halten.
    Ivan nickt wortlos und ich habe das Gefühl, dass mir das Herz in der Brust vor Enttäuschung zerspringt.
    »Kojote ist ein Normaler«, sage ich, aber ich glaube nicht wirklich, Ivan damit zu besänftigen. »Er ist in Ordnung. Seine Familie hatte große Probleme und er ist auf der Straße gelandet.«
    »Das kommt jetzt immer häufiger vor«, sagt Ivan gleichgültig. »Die normalen Familien fallen auseinander. Dafür ziehen immer mehr Freaks in die Häuser, die Normale verkaufen müssen.«
    »Das muss dir doch gefallen«, sage ich. »Du warst immer gegen die Trennung, Ivan.«
    »Die Trennung ist damit nicht aufgehoben«, sagt Ivan hart. »Im Gegenteil. Wir stehen kurz vor einem Bürgerkrieg.«
    Das ist mir völlig neu und ich sehe ihn fassungslos an.
    »Mein Gott, Juli, in welcher Welt lebst du?«
    »Das frage ich mich auch«, flüstere ich und stehe auf. »Kann ich bitte noch mal Ksü sehen?«
    Ivan zögert. Doch dann nickt er. »Ich komme mit«, entscheidet er und deutet an, dass ich vorgehen soll.
    Ich hätte Ksüs Zimmer auch allein finden können, aber offenbar traut Ivan mir so wenig über den Weg, dass er unbedingt dabei sein will. Ich öffne die Tür, ohne anzuklopfen, weil ich Ksüs flache, mit leisem Schnarchen unterlegte Atemzüge schon im Flur hören kann. Es ist das Zimmer, in dem ich einige Tage mit Ksü wohnen durfte, nachdem ich von zu Hause weggelaufen war. Ksü liegt auf dem Bett, liebevoll zugedeckt mit einer bestickten Decke. Auf der Fensterbank entdecke ich ein kleines verbranntes Quadrum. Ivan sieht es auch sofort, durchquert das Zimmer zielstrebig und steckt es schnell ein.
    »Sie hat nicht aufgehört zu hoffen, dass du aus einem dieser Quadren wieder rauskommst«, sagt er ohne ein Lächeln. »Ich verstecke sie immer und sie holt sie wieder hervor. Ich denke daran, sie alle ein für alle Mal entsorgen zu lassen.«
    »Tu es doch«, sage ich und merke, wie sie mir inzwischen völlig gleichgültig geworden sind. Verbrannte Quadren helfen niemandem mehr. Ich weiß, dass meine Mutter nicht mal an ihnen gehangen hat, als sie noch heil waren. Wenn sie eins fertig gemalt hat, hat es sie nicht weiter interessiert. Sie hat sie verschenkt, obwohl sie ihre Bilder auch für viel Geld auf dem Schwarzmarkt hätte verkaufen können. Aber Geld war ihr unwichtig. Was war ihr überhaupt wichtig gewesen?
    Die Kinder, hat sie behauptet. Stimmt wenigstens das?
    Ich setze mich an Ksüs Bettrand. Jetzt verstehe ich, warum sie mich unbedingt anfassen musste, als sie mich wiedergesehen hat. Ich möchte sie auch berühren. Zu überwältigend ist das Gefühl, etwas Verlorenes wiederzufinden und festzustellen, dass es gar nicht das ist, was man vermisst hat, sondern eine neue, beängstigende Mischung aus Vertrautem und Fremdem.
    »Schläft sie fest?«, frage ich Ivan. Er nickt.
    Ich fahre mit der Fingerspitze über Ksüs flach gewordene Nase. Die Haut an ihrem Schädel fühlt sich warm und trocken an, die Handfläche ist irritiert von dem ungewohnten Gefühl, etwas Reliefartiges zu berühren. Ksüs Atem geht viel, viel schneller als meiner, dafür aber auch sehr

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