Spiegelriss
Erstaunen in seinem Gesicht zu sehen. Er schaut zwischen mir und Ivan hin und her. Ich bin ihm unendlich dankbar dafür, dass er nicht nach dem Grund der Planänderung fragt, sondern einfach nur nickt. Wahrscheinlich wird er mir gleich auf der Straße alles sagen, was er davon hält, dass er mich durch die ganze Stadt hierherbegleitet, um erst in eine Schlägerei verwickelt, dann betäubt und schließlich zusammen mit mir rausgeschmissen zu werden.
»Wartet«, sagt Ivan heiser. »Geht nicht einfach so. Ich gebe euch vorher noch was zu essen.«
Ich will nichts mehr von dir, will ich antworten, aber Kojote hält mir mit seiner dreckigen Hand einfach den Mund zu, als wüsste er, was mir auf der Zunge liegt. Ivan verzieht das Gesicht, als er das sieht, aber ich rede mir ein, dass mich das nicht mehr kümmert. Ich bilde mir auch ein, dass ich nur wegen Kojote noch ein paar Minuten bleibe, weil er sicher wahnsinnigen Hunger hat und ich ihm zumindest eine Mahlzeit schuldig bin.
Ivan stellt Brot, Butter und Käse auf den Tisch, öffnet irgendwelche Dosen mit Fisch, Fleisch und Gemüse, wärmt kalte gekochte Kartoffelscheiben in der Pfanne auf und brät Eier an. Ich stelle fest, dass ich dabei unruhig mit den Fingern auf die Tischplatte trommel und alle zwei Sekunden ganz laut schlucke. Dann muss ich mich zügeln, um mir nicht alles auf einmal in den Mund zu stopfen und dabei nicht zu knurren wie ein Hund. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Kojote mit geradem Rücken am Tisch sitzt und etwas gelangweilt Bissen mit der Gabel zu seinem Mund führt, als wäre er längst absolut satt und würde nur aus purer Höflichkeit eine Kleinigkeit essen. Bei diesem Anblick verschlucke ich mich und besinne mich ebenfalls des Bestecks.
Trotz Kojotes bedächtigen Tempos dauert es merkwürdig kurz, bis wir alles, was auf dem Tisch stand, in uns hineingeschaufelt haben. Ich spüre meinen Magen wie einen vollgestopften Ballon zwischen meinen Rippen und das vergessene Gefühl des Sattseins macht mich schläfrig. Mir ist peinlich, dass Ivan mein gieriges Schlingen mit angesehen hat, selbst ein kleines Lächeln glaube ich, in seinem Gesicht zu bemerken. Dann verschwindet er noch mal kurz aus der Küche, um mit zwei Paar Schuhen und zwei warmen Jacken zurückzukehren. Er hält das alles in unsere Richtung. Ich wechsele einen Blick mit Kojote.
Nimm es, sagen seine Augen und ich gehorche.
Kojote nickt Ivan zu, steckt die Füße in die Schuhe und beginnt, sie zuzubinden. Es sind feste Wanderschuhe mit etwas abgenutzten Schnürsenkeln. Die Schuhe, die Ivan mir gereicht hat, stellen sich als hohe Schnürstiefel mit dicken Sohlen heraus.
»Ist es Ksü recht, dass du sie mir gibst?«, frage ich.
»Sie sind nicht von Ksü«, sagt Ivan. »Ksü hat viel kleinere Füße. Sie sind von meiner Mutter. Und die da…« Er nickt in Kojotes Richtung. »…sind von meinem Vater.«
Kojote sieht aufmerksam auf. Ich bücke mich, um mein Gesicht zu verbergen.
»Danke«, murmele ich.
Als Kojote und ich das Haus verlassen, steht Ivan in der Tür. Da ich nicht weiß, mit welchen Worten ich mich verabschieden soll, sage ich lieber gar nichts. Kojote begnügt sich auch mit Gesten – ein kurzes Nicken und die zum Abschiedsgruß angehobene Hand. Ich muss ihn dafür bewundern. Jede meiner eigenen Regungen kommt mir unbeholfen und peinlich vor.
Ivans Gesicht ist wieder so gleichgültig wie am Anfang. »Macht’s gut«, sagt er.
Wir wandern die Straße herunter, eingehüllt in dicke Jacken, das ungewohnte, schwere und wohlige Gefühl der Schuhe an unseren Füßen auskostend. Ich denke an Ksü, wie sie in ihrem Bett liegt, und an Ivan, der vielleicht gerade zu ihr geht. Bevor wir um die Ecke zur U-Bahn-Station biegen, drehe ich mich noch mal um.
Ivan steht in der Tür und sieht uns nach. Da er sich gerade offenbar unbeobachtet gefühlt hat, erhasche ich einen Blick auf sein Gesicht ohne Maske. Und ich sehe so viel Furcht und Verzweiflung darin, dass ich sofort bereit bin, ihm diesen schrecklichen Empfang zu verzeihen.
Ingrid und Reto
Das waren also deine besten Freunde?«, fragt Kojote im U-Bahn-Waggon. Die schwarze Jacke mit unzähligen Reißverschlüssen und Taschen macht einen anderen Menschen aus ihm, vor dem ich mich abermals abwende, diesmal, weil ich mich in Grund und Boden schäme.
Ich habe neue Kleider und Schuhe und bin unglücklich wie schon lange nicht. Ich habe die schlafende Ksü vor Augen. Jetzt, wo wir das Haus verlassen haben, frage ich mich,
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