Spiegelriss
warum ich mich dadrin eigentlich so angestellt habe. Im Rückblick kommt sie mir gar nicht so schrecklich verändert vor. Ich fühle mich, als hätte ich etwas Wichtiges verpasst.
Ich schiele in Kojotes Richtung. Das lenkt mich ab. Was wird er jetzt von mir denken? Natürlich schulde ich ihm nichts. Aber er hat mir geholfen, auch wenn es nichts gebracht hat. Und er trägt auch noch das Fahndungsplakat bei sich. Vermutlich schon länger. Fragt mich aber nicht danach. Begleitet eine mutmaßliche Mörderin zu ihren Großeltern, deren Adresse ich aus den Tiefen meiner Erinnerung hervorgekramt habe. Fragt nur höhnisch: »Noch mehr Freunde?«
»Schlimmer«, antworte ich. »Oma und Opa.«
Sein Schweigen macht mich nervös. Er müsste mich jetzt ausfragen – über Ksü, Ivans abweisendes Verhalten, die verbrannten Quadren. Wie kann er so viel über das Leben wissen, wenn er so wenig neugierig ist?
Die einzige Frage, die er mir stellt, lautet: »Warum heulst du?«
Dabei versuche ich schon die ganze Zeit, mein Gesicht zu verbergen. Ich kann ja schlecht antworten, wie mich der Besuch schockiert hat. Dass ich für den glücklichen Fall, dass wir Ksü und Ivan zu Hause angetroffen hätten, mit einem herzlichen Empfang gerechnet habe und nicht damit, dass Ksü nach einer Viertelstunde in einen chemischen Schlaf sinkt und ich mit Kojote nur wenig später wieder auf der Straße stehe.
»Der Bruder deiner Freundin ist ein Arschloch«, sagt Kojote, als hätte er meine Gedanken gelesen.
»Ist er nicht«, protestiere ich. »Du hast keine Ahnung, was er durchgemacht hat.« Das Bild von einem früheren Ivan taucht vor meinem inneren Auge auf. Ivan auf dem geflügelten Motorrad. Aufrecht und lächelnd. »Wenn du ihn vor einem Jahr gesehen hättest, würdest du jetzt anders über ihn denken.«
»Glaub ich nicht«, sagt Kojote. Ich sehe kurz zu ihm und denke: Stimmt, ich hab ja auch kaum Ahnung davon, was du durchgemacht hast.
»Schau mich nicht so an«, sagt Kojote. »Zieh dir lieber die Kapuze ins Gesicht. Bist ja, wie wir gerade gemeinsam rausgefunden haben, der teuerste Babyfuß der Welt.«
Panisch versuche ich, mein Gesicht hinter Kapuze und Kragen zu verbergen. Die Stiefel an den Füßen haben einen gefährlichen Entspannungseffekt. Ich habe in der Tat für einen kurzen Moment vergessen, dass ich vogelfrei bin. Wenn man barfuß herumläuft, wenn jeder Schritt mit Schmerz droht, steht man permanent unter Strom. Das fördert die Wachsamkeit.
»Wie lange weißt du es schon?«, frage ich Kojote, der sich mit geschlossenen Augen auf seinem Sitz zurücklehnt.
Er zuckt mit den Schultern. »Eine Weile.«
»Und weiß es noch jemand aus dem Rudel?«
Sein mir zugewandter Mundwinkel fährt nach oben. »Glaubst du wirklich, du wärest dann noch hier?«
Ich schlucke. »Und wann verrätst du mich an die Polizei?«
Jetzt grinst er noch breiter. »Mal sehen.«
»Es ist eine Belohnung auf mich ausgesetzt«, sage ich hoffnungslos. »Eine ziemlich hohe.«
»Ich kann lesen. Steht überall drauf. Aber ich mach mir nichts aus Geld.«
Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Ich stütze die Ellbogen auf die Knie, verberge mein Gesicht hinter den Händen. Ohne Kojote wäre ich verloren. Was nicht heißt, dass ich ihm vertraue. Ich habe bloß keine Wahl. Welches Spiel auch immer er spielt, ich spiele mit, so gut ich kann.
Kojote hustet und wischt sich mit dem Ärmel über den Mund.
»Dieses Hypnoszeug, das dein bester Freund da herumgesprüht hat«, sagt er, ohne mich anzusehen. »Das benutzen übrigens normalerweise die Experten der Polizei. Und zwar, behaupten sie jedenfalls, ganz exklusiv.«
Das Viertel, in dem Ingrid und Reto leben, begrüßt mich ebenfalls mit einem hohen Zaun, der oben mit Stacheldraht gesichert ist. Der Zaun ist neu, früher konnte man ungehindert herein. Die Zugangsstraße ist abgesperrt, davor steht ein Glashäuschen, in dem jemand sitzt, dessen buschigen Schnurrbart ich von Weitem sehen kann. Obwohl ich damit gerechnet habe, stöhne ich nun doch leise und bleibe sofort stehen.
»Das war es. Ende der Veranstaltung.«
»Mach dir nicht ins Hemd. Ich melde dich bei dem Walross an. Er holt dann deine Großeltern.«
»Superidee. Am besten, du kündigst mich mit vollem Namen an. Es meldet sich schließlich nicht jeden Tag eine gesuchte Verbrecherin.«
»Muss doch gar nicht dein richtiger Name sein, Superhirn. Wen würden deine Großeltern noch reinlassen außer dir?«
Ich überlege nicht lange, bevor ich
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