Spiegelriss
»Kassie Rettemi« sage.
Ich verstecke mich hinterm Baum und beobachte, wie Kojote dem Schnauzbart winkt. Gut, dass er nicht mehr barfuß ist und eine Kapuze über seinen blutroten Haaren trägt, denke ich, jedenfalls scheint er sich schnell Gehör zu verschaffen. Ein kleines ovales Fenster an der Seite des Glashäuschens geht auf, Kojote schreit den Namen meiner Schwester hinein, den sich der Mintgrüne offenbar mehrmals buchstabieren lässt. Dann hebt er einen Telefonhörer ab.
Es dauert nicht lange, bis ich sie sehe: eine große gebückte und eine kleine, aber kerzengerade Gestalt, die sich Seite an Seite nähern. Ihre Schritte wirken bedächtig, aber ich erkenne die Zielstrebigkeit und die verborgene Hast, die in diesen Bewegungen steckt. Schneller als vermutet sind sie hier, ganz nah bei uns. Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Sie werden enttäuscht sein, denke ich. Sie wollen Kassie, ihre richtige Enkelin, sehen und wen kriegen sie stattdessen?
Der Wächter deutet auf Kojote, der jetzt zwischen ihnen und mir steht. Sie sehen ihn an. Ingrid runzelt die Stirn, als versuche sie, sich an ihn zu erinnern. Ich atme tief ein und aus, komme hinter dem Baum hervor und stelle mich an Kojotes Seite. Am liebsten würde ich mich jetzt an ihm festhalten, behalte aber meine zitternden Hände schön bei mir.
Die Schranke fährt langsam hoch. Ingrid und Reto stehen dahinter und schauen mir entgegen. Wenn sie jetzt erstaunt sind, so lassen sie es sich nicht anmerken. Erst als ich noch ein Stück näher komme und ihre Augen sehe, begreife ich, dass sie längst mit allem gerechnet haben. Es ist nicht mehr so einfach, sie zu überraschen. Vielleicht haben sie bereits jedes Zeitgefühl verloren und es würde sie gar nicht wirklich wundern, wenn Kassie bereits meine Größe erreicht hat. Vielleicht bin auch ich diejenige, die nicht mehr genau weiß, was real ist und was nicht.
Rudolf ist nicht dein Vater, rufe ich mir in Erinnerung.
Die Schranke ist jetzt oben und ich betrete das umzäunte Viertel mit Kojote im Schlepptau. Ich spüre die Blicke des Mintgrünen im Wachhäuschen auf meinem Rücken. Wenn Ingrid und Reto in diesem Augenblick Alarm schlagen würden, wäre es für mich gelaufen.
»Ich bin’s, Juli«, flüstere ich, wahrscheinlich zu leise, als dass sie mich hören könnten. Ich nähere mich ihnen ganz langsam. Wildfremde, denke ich. Warum habe ich bloß auf Ivan gehört und bin hierhergekommen?
Als ich dicht vor ihnen stehe, schrecken sie zu meinem Erstaunen nicht zurück. In der Stille habe ich Gelegenheit, ihre Gesichter zu studieren. Sie sind älter geworden, eingehüllt in schwarze Trauerkleider, ihre Haare glänzen neuerdings silbern. Ingrids Wangen sind eingefallen, sie ist eine sehr alte Frau. Sie streckt die Hand aus und betastet mein Gesicht, genauso, wie Ksü es gemacht hat. Nur dass Ksüs Finger dann doch um einiges sanfter waren als die eiskalten, rauen Fingerkuppen Ingrids.
»Juliane?«
Ich nicke und würge an meinem vertrauten Kloß im Hals herum. Sehe zu Reto hoch, der regungslos wie ein Schatten neben Ingrid steht.
»Das bist du, Juliane«, sagt Ingrid und an ihrem Tonfall kann ich nicht erkennen, ob es eine Frage oder eine Behauptung ist.
»Ja«, sage ich. »Das bin ich.« Und nach einer Pause: »Ich habe mich ein wenig verändert, seit wir das letzte Mal miteinander zu tun hatten. Ich meine, auch optisch.«
»Das merken wir«, sagt Reto.
Verlegen fahre ich mir durch die Haare.
»Wir haben in unserem Leben schon mehr gesehen, als du denkst«, sagt Ingrid. »Aber du bist sehr schmutzig. Und die Kleider, die du anhast, passen dir nicht.«
»Ich bin froh, dass ich sie habe«, sage ich matt.
»Und das ist dein Begleiter?«
»Mein wer?« Irritiert von diesem förmlichen Ausdruck drehe ich mich zu Kojote. Er nickt mir aufmunternd zu.
»Ach so«, sage ich, ohne den Blick von seinem Gesicht abzuwenden, das eine beruhigende Wirkung auf mich hat. »Ja.«
»Ich würde vorschlagen, wir gehen jetzt ins Haus«, sagt Ingrid, dreht sich um und geht voran.
Ingrids Rücken ist sehr gerade und ich muss sie dafür bewundern. Ihre Haare schmiegen sich wie ein silbriger Helm an ihren Kopf, komplett ergraut, aber immer noch ordentlich und vor allem sehr kurz geschnitten. Das Gesicht ist von tiefen Falten zerfurcht, die Mundwinkel zeigen nach unten. Es ist ihr neuer Blick, der mich am meisten irritiert. Die Ingrid von früher hat mir nie in die Augen geschaut, immer schnell weggeguckt. Die neue
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