Spiegelriss
Ingrid löchert mich, ohne zu blinzeln. Manchmal gönnt sie mir eine kleine Pause und richtet ihren Blick auf Kojote. Dann beginnt er, auf seinem Sitz unruhig hin und her zu rutschen.
»Gut, dass du da bist«, sagt sie zu mir. »Ich habe auf dich gewartet.«
Ich verschlucke mich.
Wir sitzen an ihrem Küchentisch und löffeln Hackfleischsuppe. Mich fröstelt es. Es ist die Küche, in der ich als Kind öfters gewesen bin, nichts hat sich daran verändert. Saubere Arbeitsflächen, auf denen nichts Überflüssiges steht, spiegelglatte Fliesen, jede Fuge glänzt. Ordentlich gestapelte Zeitungen, in die der Bioabfall gewickelt wird. Nur dass jetzt obendrauf das Fahndungsplakat mit meinem Gesicht liegt.
Ganz schön bescheuerter Pony, denke ich zum wiederholten Mal, ganz automatisch, als hätte ich gerade keine anderen Probleme als meine frühere Frisur.
Obwohl die Mahlzeit bei Ivan keine drei Stunden zurückliegt, haben Kojote und ich wieder schrecklichen Hunger. Ingrid füllt die Teller nach und sieht uns beim Löffeln zu, die Hände im Schoß gefaltet. Ihr Gesicht drückt Missfallen aus. Wäre ich auch nur einen Hauch weniger hungrig, würde ich unter ihrem Blick vermutlich keinen Bissen runterkriegen. Aber mein Magen brüllt nach allem, was essbar ist, und ich würde wahrscheinlich auch unter dem Sprühkopf einer Hypnosdose den Löffel nicht aus der Hand legen. Reto sitzt neben Ingrid, seine Schultern sind nach vorn gesunken und sein Kopf zittert ganz leicht.
Ich spüre einen Stich in der Herzgegend. Ich muss sie einmal geliebt haben, als ich klein war. Als ich davon ausging, dass sie meine wirklichen Großeltern sind.
Unsere Teller sind wieder leer. Ingrid kratzt den Topf aus und verteilt je eine letzte Schöpfkelle in Kojotes und meinen Teller.
»Danke, das ist lecker«, sagt Kojote. Ingrid antwortet ihm nicht.
»Du bist sehr, sehr dreckig«, sagt sie zu mir, nachdem ich den Löffel neben meinen leeren Teller gelegt und mich zurückgelehnt habe, die Hand auf meinem ungewohnt prallen Bauch. Jetzt könnte ich sofort einschlafen. Aber ich darf nicht. Ich bin in permanenter Gefahr und Ingrid und Reto haben ein Fahndungsplakat mit meinem Gesicht in der Küche liegen. Damit haben sie mich sofort der Illusion beraubt, dass sie vielleicht ähnlich wie Ksü gar nicht wüssten, was draußen gerade abgeht.
»Ich habe zuletzt auf der Straße gelebt«, murmele ich müde. Hebe mühsam ein Augenlid hoch, um das Entsetzen in Ingrids Gesicht zu sehen. Aber sie ist nicht entsetzt. Nur leicht angewidert.
»Das merkt man«, sagt sie und presst die Lippen vorwurfsvoll aufeinander. »Wie hat deine Mutter das zugelassen?«
»Ich bin schon ein großes Mädchen«, sage ich.
»Du bist noch lange nicht volljährig. Sie ist erziehungsberechtigt. Das ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht.«
»Mein Gott, Ingrid, sie kann nicht immer auf mich aufpassen. Sie ist eben… nicht da.«
»Wo ist sie?«, fragt Ingrid.
Ich öffne auch das andere Auge. Was soll die Fragerei? Seit wann interessiert sie der Aufenthaltsort meiner Mutter?
»Weit weg«, sage ich schließlich. »Kann man nicht leicht hin.«
Ingrid kaut auf ihrer Unterlippe herum.
Ich spüre den dringenden Wunsch, sofort aufzuspringen und wegzulaufen. Allerdings kann ich mich kaum rühren. Bin ich so extrem satt oder hat sie mir was ins Essen gemischt? Ich schiele zu Kojote rüber. Hängt er jetzt auch etwas schlaff auf seinem Stuhl oder wirkt er noch wach genug?
»Minderjährige Pheen werden ins Dementio gebracht, stand in der Zeitung«, sagt Ingrid. »Wenn die Polizei dich kriegt, kommst du auch dahin.«
»Danke für die Info«, sage ich. »Das klingt ja großartig.«
Ingrid atmet tief ein und rümpft die Nase. »Und jetzt nimm bitte sofort ein Bad, Juliane. Und Sie«, sie dreht sich zu Kojote, »können es anschließend ebenfalls nutzen.«
Kojote deutet wieder eine Verbeugung an.
»Ich bin aber so müde…«, murmele ich. Meine Augenlider sind so schwer, dass ich keine Kraft habe, die Augen offen zu halten.
»Jetzt geh schon baden«, zischt Kojote und tritt mich unterm Tisch. »Das täte dir echt mal gut.«
»Danach wirst du mir etwas erklären«, sagt Ingrid.
Ich ziehe es vor, das zu überhören. Im Flur bleibe ich stehen und blicke ratlos auf das Porträt eines jungen Mädchens, das eingerahmt an der Wand hängt. Das habe ich hier noch nie gesehen. Das Mädchen hat einen unbekümmerten Blick, das Kinn wirkt trotzig wie bei Kassie und die herumfliegenden
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