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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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Wollte er mir helfen?
    Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Ich bin wütend auf mich selbst – dass ich immer noch bereit bin, jedem zu vertrauen, der nett zu mir ist. Kojote braucht mein Kopfgeld viel dringender als Ingrid und Reto. Er kann jetzt ein ganz anderes Leben führen. Schließlich ist er normal.
    Ich blecke die Zähne und höre die Polizisten von mir zurückweichen. Nächstes Mal knurre ich, denke ich.
    Wegen des Gedröhns der begleitenden Motorräder kann ich die Beschaffenheit der Straße nicht heraushören, obwohl ich das gern würde. Der Bus fährt jetzt etwas langsamer. Das Dementio, aus dem noch ein solches Geheimnis gemacht wurde, als meine Mutter verschwand, ist inzwischen jedermann ein Begriff. Auf einer Litfaßsäule hatte ich vor zwei Wochen von der Eröffnung einer Ausstellung gelesen, »Kinder malen das Dementio«, und mich gefragt, ob es inzwischen Ausflüge für Schulklassen dahin gibt oder ob hier eher die Fantasie der Kinder gefragt war. Das Wort zieht neue Gerüchte magisch an, aber einige Eckdaten scheinen bekannt: Es liegt außerhalb der Stadt und es gilt als gefährlich, dort zu arbeiten.
    Jetzt hält der Bus an. Mich erreicht ein Zischen und Quietschen, aufschlagendes Metall, gedämpfte Stimmen, die merkwürdige Worte austauschen – »Die Phee« – »Dadrin?« – »Schnell. Vorsichtig.« Dann wieder das Zischen und Piepsen und leises Quietschen.
    So klingt ein Tor, das aufgegangen war und jetzt wieder verschlossen wird. Das Tor des Dementio.
    Und dann spüre ich es, und obwohl ich es genau weiß, halte ich es trotzdem erst mal für ein Tier, das plötzlich auf meinem Körper herumklettert, fremdes Fleisch auf meiner Haut, das mich aufschreien lässt. Aber es ist, anders als zuerst vermutet, keine riesige, haarige Spinne. Es sind die Finger des Polizisten, die sich unter meinen Pyjama schieben, und ich werfe mich ruckartig zur Seite, denn mehr kann ich nicht tun. Ich falle gegen den anderen, der sofort zurückweicht, sodass ich mit der Schläfe an etwas Rundem und Kaltem aufschlage, wahrscheinlich ist es der Türgriff. Ein weiteres Paar Hände packt mich an den Schultern und hilft mir in die aufrechte Position zurück.
    Und wieder nähern sich die klebrigen Finger meiner Haut, gleiten unter das Oberteil von Ingrids Schlafanzug. Ich spüre, wie sie mich forschend betasten, als wollten sie rausfinden, wie ich mich nun genau anfühle und was daran so besonders sein soll. Ich winde mich und zische wie eine Schlange, aber das scheint ihn nur anzuspornen. Der Ekel durchzuckt mich, die Wut benebelt meinen Verstand und ich spucke mit aller Kraft in die Richtung, in der ich das Gesicht zu diesen Händen vermute. Ich höre einen entsetzten, dumpfen Aufschrei, dann zwei aufgeregte Flüsterstimmen, die ich aber ausblende, weil meine Ohren sich gerade auf etwas anderes konzentrieren. Vorher hatte ich, außer dem eigenen, drei aufgeregte Herzen hektisch schlagen gehört. Und jetzt sind es auf einmal nur noch zwei.
    Der Raum, in den ich gebracht werde, ist so klein, dass ich die gegenüberliegenden Wände gleichzeitig mit den Fingerspitzen berühren kann, wenn ich die Arme ausstrecke. Die Dunkelheit, in die ich dank der Binde getaucht bin, empfinde ich auf einmal als Schutz. Ich taste mit den Händen an den Wänden entlang, die sich glitschig glatt anfühlen. So wandere ich die Wände ab, sie mit den Fingern und manchmal auch mit der Stirn berührend, bis ich an kalten Stäben ankomme, die sich zu einem Gitter zusammensetzen. Ich befinde mich in einem Käfig.
    Ich gehe in die Knie. Der Boden ist auch rutschig, aber ich bin barfuß und schaffe es, Halt zu finden. Bevor man mich hier reingeworfen hat, haben mir unsichtbare Hände die Kleider vom Leib und die Hausschuhe von den Füßen gerissen, in die ich heute früh meine Füße gesteckt hatte, als mich die Polizei holte. Auf meinem Kopf war etwas aus Stoff gelandet. Ich kann mehrere Öffnungen ertasten und schlüpfe rein, um nicht nackt dazustehen. Es fühlt sich an wie ein Nachthemd und reicht bis zum Boden.
    Nach den Handschellen schmerzen immer noch meine Handgelenke und ich reibe sie aneinander. Obwohl meine Hände jetzt frei sind, schaffe ich es nicht, mir die Augenbinde abzunehmen. Sie ist am Hinterkopf verschlossen und je mehr ich dran zerre, desto enger zieht sie sich zusammen, bis ich die Versuche unterlasse.
    Zusammengefasst bin ich also blind, trage ein Nachthemd und sitze im Käfig.
    Ich taste den Boden ab, aber meine Hoffnung auf

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