Spiegelriss
mehr ins Gesicht schauen. Auch nicht in die Augen von Ingrid und Reto, die jetzt sicher meinen Abtransport beobachten. Und so brauche ich mir auch keine Mühe mehr zu machen, irgendwo eine Spur von Kojote zu entdecken.
Einer von ihnen hat mich verraten. Ich will nicht, dass Kojote derjenige ist. Aber was ich will, interessiert hier keinen. Nüchtern betrachtet kommt Kojote als Denunziant ebenso in Frage wie das alte Ehepaar, das mich eben noch wegen ihrer vermeintlichen spröden Nettigkeit fast zu Tränen gerührt hat. Jetzt haben sie mich dem sicheren Tod ausgeliefert.
Ich bin überrascht, wie ruhig ich bleibe.
Angst habe ich auch, aber sie befindet sich irgendwo außerhalb von mir. Sie drückt auf meine Schultern wie ein schwerer Rucksack, doch ich kann sie gedanklich ausblenden. Die Augenbinde hat meine Sinne geschärft. Plötzlich rieche und höre ich viel besser als vorher. Den Atem der Polizisten, die mich umgeben, in den mintgrünen Bus zwingen, auf eine gepolsterte Bank, die viel zu stark nach Vanillin riecht. Mir kommt es fast hoch, ich erkenne den Geruch des Putzmittels wieder, das auch im Lyzeum benutzt wurde, und ich könnte mit ein wenig Konzentration auch rausfinden, was genau hier so gründlich weggeschrubbt werden musste. Aber ich will es gar nicht wissen, mir ist schon schlecht genug.
Die wenigen Moleküle aus dem Zuhause der Menschen, die ich für meine Großeltern gehalten habe, schweben noch im Inneren des Busses, sie riechen nach Trauer und etwas anderem, dem ich eine graue Farbe zuordne. Als die Schiebetür sich mit einem Klicken verschließt, reduzieren sich nicht nur die Straßengeräusche, sondern auch die Gerüche. Und plötzlich wird mir klar, dass ich den Duft, der über diesem Viertel hängt, endlich richtig einordnen kann. Es ist der Geruch des Todes.
Ich kann drei verschiedene Schweißnoten in meiner Nähe ausmachen, was mir einen Überblick über die Anzahl der Polizisten verschafft, mit denen ich den hinteren Teil des Busses teile. Der Atem des einen riecht nach Bratwurst mit Ketchup, der andere nach einem kariösen Zahn, der dritte, den ich von früher kenne, hat metastasierten Krebs. Davon weiß er vermutlich nichts, denn gerade fängt er an, Witzchen über mich zu reißen, die sich alle darum drehen, dass Pheen angeblich so schön und unwiderstehlich sind und ich dagegen mit meinen Storchenbeinen und zerbissenen Lippen wie eine Vogelscheuche aussehe. Ich denke gleichmütig, dass er mich gestern vor dem Bad hätte sehen sollen, ungewaschen und zerlumpt. Seinen Kollegen bin ich fast schon dankbar dafür, dass sie auf seine Zoten nur mit Grunzen reagieren. In ihre Gerüche mischen sich jetzt deutlich einige Noten Angstschweiß. Wovor fürchten sie sich?
Drei Polizisten für ein Mädchen in Handschellen und mit verbundenen Augen. Das kommt mir ganz schön übertrieben vor, zumal ich nur diejenigen gezählt habe, die direkt bei mir sitzen. Um uns herum dröhnen die Motoren der Polizeimotorräder, es ist eine ganze Eskorte, was mir die Gesichtszüge in einer Art Grinsen wider Willen verzerrt. Meine Fahrt ins Dementio bleibt nicht gerade anonym.
Ich bin eine gesuchte Verbrecherin und wahrscheinlich wird meine Entdeckung und Inhaftierung mit großem Tamtam bekannt gegeben und von der Normalität gefeiert. Die Pheengefahr ist mit mir gebannt. Jetzt wird alles besser für die Leute da draußen. Zufriedenheit ist schließlich nur eine Frage der Einstellung.
Meine Augenlider unter dem Verband beginnen zu jucken. Aber meine Hände sind fest hinter meinem Rücken zusammengebunden. Ich kann mich nicht rühren, ohne dass mir irgendetwas wehtut. Ich beiße mir auf die Unterlippe, um mich durch den auf diese Art selber verursachten Schmerz vom Juckreiz abzulenken. Der Todkranke lenkt die Aufmerksamkeit der Kollegen auf meinen bescheuerten Gesichtsausdruck und berichtet, ich habe schon als Kind so ausgesehen. Er habe mich und meine Mutter jahrelang beobachtet.
Die beiden anderen schweigen.
»Wer hat euch gerufen?« Es ist meine eigene heisere Stimme, die ich plötzlich höre, obwohl ich gar nicht vorhatte, mit ihnen zu reden. »Waren es meine Großeltern?«
Sie schweigen. Ich höre ihre viel zu schnell schlagenden Herzen, das Rauschen des Blutes in ihren Adern. Ich schüttele den Kopf in einem verzweifelten Versuch, die Augenbinde loszubekommen, aber natürlich gelingt mir das nicht.
War das Kojotes Blut auf den Fliesen?, denke ich. Und was würde das bedeuten? Haben sie ihn geschlagen?
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