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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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in ihrer Nähe.«
    Ich schlucke. »Und was ist mit meinem richtigen Vater? Hat ihn irgendjemand einmal erwähnt? Ist er mal hier aufgetaucht?«
    Ingrid und Reto schweigen.
    »Er ist hier aufgetaucht«, schließe ich daraus. Meine Lippen beginnen zu zittern.
    Ingrid schüttelt den Kopf. In ihren Augen steht so etwas wie Mitleid. »Wir wissen nicht, wer er ist. Sicher ist es ein Normaler gewesen. Er hat deine Mutter mit dir sitzen lassen, weil er nichts mit einer Phee zu tun haben wollte.«
    »Nein, das kann nicht sein«, sage ich, und noch während ich es ausspreche, weiß ich, dass es sehr wohl sein kann. Es muss so gewesen sein.
    »Ihr müsst sie gehasst haben«, atme ich aus. »Wenn euer normaler Sohn eine Phee mit einem Kleinkind nach Hause bringt, muss das der Horror sein.«
    Wieder sehen sich Ingrid und Reto an.
    »Sie war noch sehr wild«, sagt Reto.
    »Und du warst sehr schmutzig«, echot Ingrid.
    »Und ihr habt das einfach akzeptiert? Diese Heirat?«
    Sie wechseln Blicke. »Er war praktisch tot, als sie ankam. Danach hat er weitergelebt. So etwas können nur Pheen. Wir hatten unseren Sohn an sie verloren, aber wenigstens war er noch da.«
    »Der Pakt«, sage ich. »Sie hatten einen Pakt geschlossen. Wisst ihr irgendwas darüber?«
    Das Wort Pakt scheint ihnen nichts zu sagen. Eine Weile denken sie sichtlich angestrengt nach.
    »Nein«, sagt Ingrid schließlich entschieden. »Sie hatten ganz ohne Ehevertrag geheiratet. Was wir, das will ich dir nicht verschweigen, schon damals für einen großen Fehler gehalten hatten.«
    Die ganze Zeit konnte ich mich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten, aber sobald ich mir die Decke über den Kopf ziehe, bin ich hellwach. Ich liege in Ingrids Bügelzimmer, schaue auf die Regale mit unzähligen leeren Marmeladengläsern. Irgendwann ganz früher, fällt mir wieder ein, hat Ingrid Marmelade gekocht aus den Äpfeln in ihrem Garten. Später hat sie damit aufgehört, aber die leeren Gläser sind immer noch da. Je weiter ich in die Dunkelheit starre, desto deutlicher sehe ich die Umrisse – Schrank, Bügelmaschine, Spiegel.
    Die Tür quietscht leise und ich fahre mit einem Schrei hoch. In der Tür steht Kojote in Retos blau-schwarz-rot kariertem Schlafanzug.
    »Darf ich reinkommen?«, fragt er.
    Ich ziehe mir die Decke bis unters Kinn und nicke. Obwohl er meine Geste im Dunkeln kaum erkannt haben kann, geht er rein und schließt die Tür hinter sich. Ich sehe zu, wie er langsam näher kommt und sich auf meinen Bettrand setzt. Ich rücke ein bisschen weg, bis mein Ellbogen die kalte Wand berührt.
    »Da sehnt man sich die ganze Zeit nach einem Bett mit Kissen und Decke, und wenn man es mal hat…«, beginnt Kojote mit einem Seufzer.
    »Ist es einem auch nicht recht«, beende ich seinen Satz. »Warum kannst du nicht schlafen?«
    Er zuckt mit den Schultern.
    Ingrid hat ihm die Couch im früheren Spielzimmer meines Vaters zugewiesen. Ich war kurz drin gewesen. Es war unheimlich: Regale mit Autos, die wahrscheinlich jede Woche abgestaubt wurden; hohe Stapel von Spielen zur Entwicklung von Rechenfähigkeit und Feinmotorik; Kuscheltiere, die nach Waschmittel dufteten. Ingrid hatte das alles aufbewahrt und ich frage mich, für wen. Ich und die Zwillinge durften nie damit spielen.
    »Ist es dir unheimlich hier?«, frage ich Kojote. »Weil das so ein totes Haus ist?«
    Er zuckt wieder mit den Schultern. »Kein Problem.«
    Ich setze mich bequemer hin, stopfe mir ein Kissen in den Rücken und lehne meinen Kopf gegen die Wand. »Ich hatte die ganze Zeit ein völlig falsches Bild von ihnen«, sage ich nachdenklich. »Kannst du dir vorstellen, dass sie mich als Enkelin akzeptiert hatten, obwohl sie meine Mutter nie gemocht haben?«
    Kojote sagt nichts. Das gefällt mir so an ihm, dass er in Situationen, in denen andere unweigerlich Unsinn reden würden, einfach gar nichts sagt.
    »Sie sind so alt und fertig«, sage ich. »Ich hätte nicht gedacht, dass sie mich hier überhaupt reinlassen, nach allem, was passiert ist. Das ist illegal. Und ich bin eine gesuchte Verbrecherin. Sie riskieren viel.«
    »Offenbar wollen sie was von dir«, sagt Kojote.
    Ich sehe ihn an. Er hat recht. Sie waren davon ausgegangen, dass ich in der Lage bin, ihnen Dinge zu erklären. Vielleicht haben sie auch noch was anderes von mir erwartet und ich habe es nicht kapiert. Mit jedem Schritt, mit jeder Begegnung weiß ich weniger über mich selbst. Mein früheres Wissen hat eine schrumpfende Halbwertszeit – die

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