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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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eine Gänsehaut, denn das Kind lacht.
    Um von diesem Anblick nicht verrückt zu werden, schaue ich woandershin. Endlich habe ich Gelegenheit, meine Zelle zu sehen. Sie ist widerlich. Ich hatte gehofft, dass sie wenigstens sauber ist, dass die Oberflächen nur mit speziellen Chemikalien glitschig gemacht wurden, um den Insassen zu verunsichern. Schließlich hatte es auch so gerochen. Jetzt aber sehe ich, wie sehr ich mich geirrt habe. Der Boden ist voll mit rostbraunen und gelblich grauen Flecken. Die gemauerten Wände haben Risse und sind mit Schimmel und Schleim überzogen. Über dem Gitter hängen Spinnweben, in denen sich Haare verfangen haben. Seltsam, dass ich sie nicht ertastet habe. Ich zwinge mich, aufzustehen und einige Haare herauszuziehen. Sie unterscheiden sich in Farbe und Länge. Sie stammen nicht von einer einzigen Person.
    Ich reiße den Kopf hoch. Die Decke befindet sich ebenfalls höher als gedacht, viel höher, ich muss den Kopf in den Nacken legen. Ein rostiger Haken baumelt direkt über mir an einem Seil hin und her. Das ist die gute Nachricht des Tages. Ich schaue an mir herunter. Aus diesem weißen Nachthemd kann ich mir sicher einen Strick drehen, wenn ich so weit sein werde, bald.
    Das Kind zupft mich am Nachthemd. Ich schaue auf sein Gesicht hinunter. Damals, im Wald, habe ich es auf den Arm genommen und getröstet, weil es nach seiner Mutter geweint hat. Gekommen ist aber nur meine Mutter. Ich wollte damals nicht darüber nachdenken, wie das alles zusammenhängt. Jetzt will ich es eigentlich auch nicht. Ich will das Kind nicht anfassen. Nichts von dem, was mich umgibt, will ich anfassen.
    »Bist du etwa ich?«, frage ich das Kind und mustere sein kleines staubiges Gesicht. Sind es meine Augen? Meine Nase? Mein Verband? Es ist schwer, wenn man keine Babyfotos von sich hat.
    »Hoch!«, sagt das Kind und streckt seine dünnen Arme nach mir aus.
    »Geh weg«, sage ich. »Es ist meine Zelle.«
    Wie ist es eigentlich hier reingekommen, denke ich und schaue mich um. An der Gittertür hängt ein riesiges rostiges Schloss, das ich fast schon komisch finde, so sehr erinnert es mich an eine Requisite aus einem alten Horrorfilm. Dann sehe ich, wie sich das Kind flach auf die Erde legt und fix unter der Tür durchkrabbelt. Und kaum habe ich noch einmal geblinzelt, ist es verschwunden.
    Und alles wird dunkel. Ich stehe wieder mitten in der Zelle, die Augenbinde nimmt mir die Sicht, und sobald ich mich bewege, drohe ich auszurutschen.
    Ich warte darauf, dass jemand kommt. Ich ekele mich davor, mich hinzusetzen, nachdem ich den Boden mit eigenen Augen gesehen habe. Aber gehe ich etwa ernsthaft davon aus, dass das wirklich passiert ist? Dass dieses seltsame Kind tatsächlich bei mir in der Zelle war? Ich muss kurz weggedriftet sein. Der Boden ist gar nicht dreckig, sonst würde ich das riechen. Am Gitter sind weder Haare noch Spinnweben, meine Finger spüren nur die glatte Metalloberfläche.
    Ich atme aus. Ich beginne schon, wahnsinnig zu werden, obwohl noch niemand etwas mit mir gemacht hat. Vielleicht ist das genau die Art Folter, die sie für einen vorgesehen haben. Mit verbundenen Augen allein zu verhungern. Mir fällt die Geschichte mit der Phee ein, die im Rudel am Feuer erzählt wurde. Der Gedanke an ihre wütenden Flüche ist merkwürdig wohltuend. Wenn sich irgendetwas davon bloß erfüllen würde, denke ich. Sie hätten es alle verdient.
    Ich lehne mich gegen das Gitter. Die ganze Zeit war ich so aufgeregt, dass ich keinen Hunger gespürt habe. Vielleicht ist es ein gutes Zeichen, dass das Gefühl des leeren Magens wieder zurückkehrt. Ich denke an die Sachen, die mir Ivan zu essen hingestellt hat. Wie ich alles in mich hineingestopft und er mich dabei angeschaut hatte. Trotz der Situation spüre ich, wie ich rot werde. Peinlich. So wollte ich ihm nicht begegnen.
    Trotz des Schamgefühls fällt es mir leichter, an Ivan zu denken als an Ksü. Mich an sie zu erinnern, tut mehr weh als alles andere. Deswegen versuche ich, sie aus meinen Gedanken auszuklammern, so zu tun, als hätte es sie nie gegeben. Eine merkwürdige Schuld drückt auf mich, das Wissen, dass ich irgendetwas falsch gemacht habe. Und jetzt sitze ich hier fest und kann nichts mehr daran ändern.
    Ich denke an Kojote. Da ich inzwischen davon ausgehe, dass Ingrid und Reto mich der Polizei ausgeliefert haben, macht mich der Gedanke an meinen unverhofften Gefährten seltsam traurig. Ich verstehe immer noch nicht, was er von mir gewollt

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