Spiegelriss
eine Matratze oder wenigstens etwas Weiches, auf das ich mich legen könnte, erfüllt sich nicht. In der Ecke stoßen meine Finger auf ein Loch im Boden, dessen Innenrand sich kühler und glatter als der Rest der Zelle anfühlt. Ich taste und taste, bis ich begreife, dass es eine Art Toilette ist. Dann ziehe ich die Hände sofort zurück und wische sie am Nachthemd ab.
So wollte ich nicht sterben. Nicht hier und nicht jetzt. Ich fasse die Wände erneut an in der irren Hoffnung, eine Tür zu entdecken, die sich unter meinen Händen öffnen würde. Aber ich bin eingesperrt und der Gedanke an den engen Raum nimmt mir die Luft zum Atmen. Ich befürchte, dass die Wände gleich näher rücken und mich zerquetschen, und in meinen Augen, auf die die Binde drückt, brennen Tränen.
Aus dem Dementio ist noch niemand lebend herausgekommen – das hatte man mir gesagt, als ich den Ausdruck vor etwa einem Jahr zum ersten Mal gehört hatte und befürchten musste, dass meine verschwundene Mutter dort eingesperrt wurde. Also kann ich nur darauf hoffen, schnell zu sterben. Wahrscheinlich geht es genau darum. Wenn die Normalität mich als Sündenbock braucht, sind meine Tage gezählt. Bin ich nicht mehr da, soll für die Normalen alles besser werden. Und da ich keine Phee bin, wird mir wenigstens das Sterben schon irgendwie gelingen.
Ich gehe fest davon aus, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis die Gittertür aufgeht und jemand reinkommt, der etwas Schlimmes mit mir anstellen wird. Die Gespräche des Rudels am Feuer fallen mir wieder ein, die blutigen Details allwissender zerlumpter Jungs, die sie sich auf der Zunge zergehen lassen, wenn die Dunkelheit über das verlassene Hochhaus-Viertel herabsinkt. Nie habe ich es geschafft wegzuhören, immer haben mich die Fetzen ihrer Gespräche erreicht und vor meinem inneren Auge zu Bildern aufgebaut, die mir die Gänsehaut über den Rücken jagten. Ich versuche jetzt gar nicht, tapfer oder standhaft zu sein, ich weiß, dass ich mir, sobald mich jemand berührt, die Seele aus dem Leib brüllen werde. Vor wem soll ich denn auch noch Haltung bewahren?
Ich lausche, um herauszufinden, was sich außerhalb der Zelle befindet. Die Wände sind sehr dick und am Fehlen von Stimmen und Herzschlag, von Wärme und Gerüchen erkenne ich, dass das nächste Lebewesen sehr weit weg sein muss. Dass ich bis vor Kurzem noch die Welt um mich herum einfach mit meinen Augen sehen konnte, kommt mir auf einmal absurd vor. Ich kann nicht einmal mehr sicher sagen, ob meine eigenen Augen unter der Binde geschlossen oder offen sind. Wenn ich erschöpft auf den glitschigen Boden sinke, verdränge ich das Druckgefühl in den Höhlen unter meinen Augenbrauen und bin sofort weg.
Ich wache auf, weil mich jemand am Fuß berührt. Ich fahre hoch, begleitet von einem erschrockenen Heulton, der mich noch panischer macht. Dann wird mir peinlich bewusst, dass es meine eigene Stimme ist und nicht die des Kindes, das vor mir sitzt. Ich ziehe die Beine an und starre das Kind an, das neben mir auf dem Boden hockt und mich aus schmalen Augen von undefinierbarer Farbe ansieht.
Augen. Augen! Meine Hände bewegen sich automatisch zu meinem Gesicht, aber es ist nicht nötig. Es ist auch so klar, dass ich wieder sehen kann, ich muss den Sitz der Binde nicht überprüfen.
Das Kind ist das Schrecklichste, das ich jemals gesehen habe. Es hat ein dreckiges Kinn und abstehende helle Fusselhaare. In die Gesichtszüge hat sich Kummer eingeprägt, der es trotz der Pausbacken und der Stupsnase alt aussehen lässt. Es ist vermutlich höchstens zwei Jahre alt, ich kenne mich mit kleinen Kindern nicht so gut aus. Es trägt eine fleckige, viel zu große Latzhose. Unter den Schulterriemen schaut etwas Dickes, Graues hervor. Ein Verband.
Ich hätte viel schneller darauf kommen müssen, warum mir das Kind so bekannt vorkommt.
Das kann nicht sein, denke ich und rutsche auf dem Boden weiter weg von diesen gequälten Augen. Ich muss träumen. Wie sonst kann dieses Wesen, das ich einmal im Wald gesehen habe, in meine Zelle ins Dementio gekommen sein?
Der Verband hat ihr wehgetan, hat Reto gesagt.
Dass ich die Entfernung zwischen ihm und mir zu vergrößern versuche, scheint dem Kind nicht zu gefallen. Es streckt die Arme aus und verzieht den Mund auf eine Art, die mich an Kassie erinnert und mir klarmacht: Gleich heult es los. Keine gute Idee. Ich rutsche wieder näher, ziehe es mit beiden Armen zu mir und halte ihm den Mund zu.
Dann kriege ich
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