Spiegelriss
hat. Jetzt kann er zum Rudel zurückkehren. Oder sich einem neuen anschließen. Er ist zu klug und zu geschickt, um unterzugehen.
Da waren aber diese roten Flecken auf den Fliesen. Ich kann mich nicht mehr weigern, darüber nachzudenken. Kann es sein, dass Kojote nicht mehr lebt? Oder ist er einfach nur verletzt? Oder hat Ingrid Kirschsaft verschüttet?
Ich schlage mit dem Kopf gegen die Gitterstäbe. Dann fällt mir ein, dass sich Tiere in Gefangenschaft genauso verhalten. Ich höre sofort damit auf, obwohl mir niemand zuschaut. Ich bin hier ganz allein.
Keine Ahnung, wie viel Zeit vergeht, ob es Stunden oder Tage sind oder auch nur Minuten: Endlich höre ich Schritte in der Entfernung, die langsam lauter werden.
Die Befragung
Es sind viele Füße, die sich so gleichmäßig bewegen, dass das Geräusch etwas von einem gigantischen Tausendfüßler hat. Ich lausche mit angehaltenem Atem. Das sichere Auftreten der Stiefel mit festen rutschfesten Sohlen. Das Rascheln der Kleidung, das Reiben des Kunststoffs beim Gehen, der Funke der elektrischen Entladung. Das dumpfe Aufschlagen von Gewichten, die dicht am Körper getragen werden. Waffen. Sprühdosen. Aber was brauchen sie schon gegen eine Sechzehnjährige im Nachthemd mit Augenbinde?
Sie kommen näher. Jetzt kann ich ihre Herzen hören. Es sind sechs, mindestens fünf davon rasen. Ich höre das Rauschen ihrer inneren Organe. Meine Hände wollen unwillkürlich zu meinen Ohren wandern, um diesen Lärm auszublenden, aber ich zwinge mich, weiter zuzuhören. Ich rieche die säuerliche Angstnote in ihrem Schweiß, die auch die Duftzusätze ihrer Duschgels und Deos nicht übertönen können.
Jetzt stehen sie genau vor dem Gitter. Sie schweigen. Ich höre ihre Herzen, ihre Mägen, ihren Atem. Wenigstens kriege ich ihre Gedanken nicht mit, sonst würde mir das Trommelfell platzen.
Wenn mein Traum mit dem Kind irgendetwas mit der Wirklichkeit gemein hat, dann müssen sie jetzt das riesige rostige Schloss mit einem ebenso riesigen Schlüssel aufschließen und auch das müsste ich genau hören.
Stattdessen ertönt ein Piepsen. Ich spüre sofort, dass das Gitter weg ist. Ein Stoß kalte Luft schlägt mir entgegen, mit den Düften der letzten Mahlzeit von all denen, die mich gerade abholen kommen. Braten, Gurkensalat, Kartoffelpüree, Vanillepudding.
Ich stehe ganz still da. Bewege mich nicht, denn ihre Nerven sind mindestens so angespannt wie meine. Ich darf nichts tun, was sie erschreckt. Sie haben Angst vor mir.
Ich darf nichts tun, was sie erschreckt? Die Absurdität dieses Gedankens wird mir schlagartig klar. Aber lachen darf ich jetzt auch nicht. Denn das würde ihnen ebenfalls nicht gefallen.
Hoffentlich fassen sie mich nicht an.
Natürlich fassen sie mich an. Fremde Finger, diesmal in Handschuhen, legen sich auf meine Schultern, drehen mich um. Ich mache mit, halte meine Hände nach hinten, die Handschellen klicken und der Schmerz durchzuckt mich.
»Zu fest«, sage ich kläglich.
Einer schnauft spöttisch.
Sie sind überrascht, dass ich mich in die richtige Richtung bewege, bevor sie mich lenken. Einer überprüft sogar den Sitz meiner Augenbinde. Ich gehe mit kleinen Schritten, um nicht auszurutschen. Meine Handschellen sind sehr schwer, doch das Rasseln kann ich erst einmal nicht einordnen. Bis ich um die Ecke gelenkt werde und es gegen meine Wade schlägt. Es ist eine Kette, die an den Handschellen befestigt ist. Eben saß ich in einem Käfig, jetzt bin ich angekettet wie ein Tier.
Der Raum, in den sie mich bringen, ist sehr kalt. Er muss riesig sein, denke ich, während ich das rhythmische Rasseln meiner Kette höre und das Echo, das jedes Geräusch zurückbringt. Hier ist der Boden trocken und die Kälte dringt durch meine Sohlen, kriecht meine Beine hoch. Für einen kurzen Moment weiß ich nicht, wohin ich soll. Jemand zieht an der Kette und drückt mich schließlich herunter. Ich fahre automatisch wieder hoch. Jetzt werden sie mir wehtun, denke ich, aber dieselben Hände drücken einfach nur erneut auf meine Schultern. Ich sitze auf einem Stuhl ohne Lehne, der sich unter meinem Hintern ziemlich wackelig anfühlt.
Das Rasseln der Kette. Ihr Gewicht. Ich kann es mir denken. Ich bin jetzt angebunden. Wahrscheinlich an einem Ring, der irgendwo aus dem Boden ragt. So macht man das mit Tieren.
Die Wachen postieren sich in einiger Entfernung. Ich kann sie inzwischen gut auseinanderhalten, ihre Gerüche und ihre Darmgeräusche unterscheiden sich klar
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